Shantis Wuschelkopf war also gerade hinter Herrn Kleinschmitt aufgetaucht. Wie er sich an den Herren von der Feuerwehr vorbeigeschmuggelt hat – ich weiß es nicht. Reflexartig rannten Maurice und ich zum Balkon. Ich war unentschlossen. Sollten wir Shanti hinterher in die Wohnung laufen oder doch lieber abwarten, was passiert? Ich entschied mich, zuallererst Maurice vorzuschicken, damit er seine Kameraden anweisen konnte, Shanti notfalls mit Gewalt aus der Wohnung zu entfernen. Später erfuhr ich, dass er tatsächlich den Jungs von der BF erzählt hatte, er sei Psychologe und man hätte ihn vorgeschickt, um mit dem Patienten zu reden. Sie mögen sich daher bitte im Hintergrund halten. Ich selbst blieb so weit vom Balkon entfernt, dass ich die Geschehnisse dort verfolgen und vielleicht noch verbal auf die Protagonisten einwirken konnte. Zumindest in der Theorie. Ich sah nämlich sogleich einen wild hüpfenden Shanti, der jetzt hinter Herrn Kleinschmitt stand und diesen freudig anbrüllte: “Bruder! Ende dein leben nicht so! Es gibt Hilfe! Ich bin gekommen, um dir zu helfen!”
Ich brüllte auch etwas, eine Mischung aus “Nein!”, “Komm da sofort wieder runter!” und “Lass ihn in Frieden!”
Es nützte aber nichts. Herr Kleinschmitt sah einigermaßen erschrocken aus, als er Shanti sah und lockerte seinen Griff am Geländer ein wenig.
“Lass und eins werden, ich werde zu dir kommen” flötete Shanti weiter. Dabei schwang er sich neben Herrn Kleinschmitt auf das Geländer und griff dessen Arme. Herr Kleinschmitt guckte noch immer etwas verdutzt.
“Lass und Mantren rezitieren!” rief Shanti verzückt. Her Kleinschmitt sah nach unten und brüllte schließlich in meine Richtung: “Ich will meine Frau zurück, warum schickt Ihr mir diesen durchgeknallten Wischmop?”
Das allerdings konnte ich ihm auch nicht beantworten. Shanti hielt währenddessen Herrn Kleinschmitts Hände und sang laut: “Guru Brahmaa Guru Vishnu, Guru Devo Maheswara!”
Dann kam, was kommen musste. Zeitgleich mit der Stürmung des Balkons durch die Jungs von der Feuerwehr, angeführt von Maurice, versuchte Herr Kleinschmitt sich Shantis Zugriff zu erwehren, was Shanti nur dazu anspornte, noch lauter zu singen und Herrn Kleinschmitt noch fester zu halten. Herr Kleinschmitt verlor bei diesem Kampf das Gleichgewicht und drohte in die Tiefe zu stürzen. Erst in diesem Moment wurde Shanti der drohenden Gefahr gewahr und rief: “Bruder, ich sagte dir doch, ich werde dir helfen!” Herr Kleinschmitt war nun aber deutlich schwerer als der schmächtige Shanti, und diesem Gewicht hatten auch Shantis Mantren nichts entgegenzusetzen. Maurice versuchte noch, Shanti zu greifen, riss ihm jedoch nur ein paar Haare aus, so dass nun Herr Kleinschmitt voran und Shanti hinterher in Richtung Beton segelten. Das Ganze erinnerte mich ein wenig an das unselige Erlebnis mit mir und Ivan, als ich ihn vom Dach retten wollte, und ich mir nichts tat, aber er sich die Pfoten brach, weil er unter mir landete. So in etwa darf man sich das auch hier vorstellen. Mit einem lauten Knall landeten die beiden zwar glücklicherweise nicht auf Beton, sondern in ein paar armseligen Büschen, die unterhalb der Balkone gepflanzt waren. Das minderte ihren Sturz ein wenig ab. Shanti hatte sich außer ein paar Prellungen und Schürfwunden glücklicherweise nichts getan, was wahrscheinlich auch daran lag, dass er auf Herrn Kleinschmitt zu liegen gekommen war. Später wollte er mir das als göttliche Fügung oder so verkaufen, auf jeden Fall soll es irgendwas damit zu tun gehabt haben, dass er vorher noch ein Mantra rezitiert hat. Um Herrn Kleinschmitt jedoch war es nicht so gut bestellt, und so durften wir auch noch eine schöne Polytraumaversorgung durchführen. Bei ihm hat das mit dem Mantra anscheinend nicht so gut funktioniert. Ich darf Euch aber sagen, dass er die Sache am Ende gut überstanden hat. Er hat Shanti verklagt. Seine Frau ist wieder zu ihm zurückgekehrt. Sie fügte sich schlussendlich dann doch alles zusammen.
Shanti ist auf ewig vom Rettungsdienst ausgeschlossen.