Sind soziale Medien Gerüchteküche oder unverzichtbarer Verbreitungsweg? Welche Rolle spielt Qualitätsjournalismus in Krisenzeiten? Welchen Stellenwert haben Massenproteste, Naturkatastrophen oder Terroranschläge im deutschen Fernsehen? Mit dem Schwerpunkt auf Medienberichterstattung in Krisenzeiten greift der neue Programmbericht der Arbeitsgemeinschaft der Medienanstalten diese Fragen auf. Dr. Jürgen Brautmeier, Vorsitzender der Direktorenkonferenz der Medienanstalten, stellte ihn gestern im Rahmen der Abendveranstaltung „Bevor sich der Rauch verzieht. Medienberichterstattung in Krisenzeiten“ im Frankfurter PresseClub vor. Vertreter öffentlich-rechtlicher und privater Programme sowie Wissenschaftler diskutierten dabei Gefahrenquellen für die Berichterstattung, die journalistische Verantwortung und die Rolle sozialer Medien in der Krisenberichterstattung.
Neben dem Diskurs über die Medienberichterstattung in Krisenzeiten behandelt der aktuelle Programmbericht auch exemplarisch das Thema „Attentat auf den Marathonlauf in Boston“. Die Suche nach den Tätern und ihre Ergreifung fielen exakt in eine Untersuchungswoche der kontinuierlichen Fernsehprogrammforschung der Medienanstalten. Die Befunde sind beispielhaft für die unterschiedliche Fähigkeit und Bereitschaft privater und öffentlich-rechtlicher Programme, ihr Publikum mit tagesaktuellen Informationen zu versorgen. Während das ZDF schon eine Stunde nach dem Attentat im „heute journal“ über Boston berichten konnte und ab Mitternacht in „heute nacht“ erste Hintergrundanalysen sendete, dauerte es bei Sat.1 zehn Stunden, bis ein erster kurzer Beitrag über das Attentat im Frühstücksfernsehen gebracht wurde. Abgesehen von einem „news flash“ von RTL am Tag des Attentats strahlten nur die öffentlich-rechtlichen Programme ARD/Das Erste und ZDF Sondersendungen zu den Ereignissen in Boston aus. Aber auch deren Berichterstattung brach nach der Ergreifung der Täter relativ abrupt ab: nicht weil die Ereignisse damit abgeschlossen waren, sondern weil danach das Wochenende begann – und damit auch für die öffentlich-rechtlichen Programme laut Programmschema eine Zeit reduzierter Informationsleistungen.
Die aktuellen Daten der ALM-Studie weisen weiterhin auf einen Umbruch in der Konkurrenz zwischen den öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehvollprogrammen hin, der auf den Trend des Privatfernsehens zum Ausbau des „Reality-TV“ zurückzuführen ist. Diese Tendenz ist in allen drei Vollprogrammen der RTL-Group – RTL, VOX und RTL II und bei zwei Vollprogrammen der ProSiebenSat.1 Media AG – Sat.1 und kabel eins – festzustellen. Davon betroffen sind alle Programmsparten, in denen gescriptete (fiktionalisierte), performative (gespielte) und narrative (pseudo-dokumentarische) Formate des Realitätsfernsehens immer mehr Raum einnehmen. Im Moment kann man in dieser Hinsicht eine scharfe Trennung zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Programmen konstatieren, da sich das Erste Programm der ARD und das ZDF von diesen neuen Formaten nahezu vollständig fernhalten. Bis vor etwa zwei Jahren manifestierten sich die Unterschiede zwischen diesen beiden Programmsystemen fast ausschließlich durch eine unterschiedliche Gewichtung und Gestaltung der „klassischen“ – fiktionalen, nonfiktionalen und fernsehpublizistischen – Programmsparten.
Prof. Dr. Joachim Trebbe, einer der wissenschaftlichen Leiter der Programmstudie, sagte: „Es gibt mit dem „Reality-TV“ eine ganze Reihe von Formaten, die in den privaten Programmen extensiv und erfolgreich angeboten werden und in den öffentlich-rechtlichen Programmen überhaupt nicht vorkommen. Insofern stehen wir hier möglicherweise am Anfang einer neuen Divergenz zwischen den beiden Systemen im dualen Fernsehen.“
Berichtet wird schließlich auch über die Ergebnisse einer Internetanalyse, in der untersucht wurde, welche Angebote der Fernsehprogramme im Anschluss an ihre lineare Ausstrahlung in den Mediatheken der Sender abgerufen werden konnten. Im Ergebnis dieser Studie wurde über alle acht Programme hinweg eine durchschnittliche Internettransferquote von ca. 50 Prozent errechnet. Allerdings zeigen sich auch deutliche Grenzen des freien Internetfernsehens, insbesondere durch urheberrechtlich begründete Einschränkungen der Weiterverbreitung von Kaufproduktionen im Internet. Außerdem stehen hinter diesem Durchschnittswert ganz unterschiedliche Internetstrategien der Fernsehvollprogramme: Hinter der durchschnittlichen Transferquote von ca. 50 Prozent verbirgt sich im Jahr 2013 eine Differenz von mehr als 60 Prozentpunkten zwischen dem „internetaffinsten Programm“ (RTL: 84 Prozent) und dem „internetresistentesten Programm“ (ProSieben: 20 Prozent). Die Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen der linear ausgestrahlten Programme und den Programmangeboten in den Sendermediatheken sind eher gering. Nur bei zwei der acht analysierten deutschen Fernsehvollprogramme – RTL und ARD/Das Erste – kann von einer weitgehenden Strukturähnlichkeit der beiden Programmebenen gesprochen werden.
Der Programmbericht betrachtet über Jahre Art und Vielfalt des vorhandenen Angebots im deutschen Fernsehen. Ab dieser Ausgabe wollen wir diesen Blick ergänzen durch die Frage, wie diese Programmvielfalt den Nutzer erreicht: Der einführende Beitrag von Thomas Fuchs (Direktor der Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein, MA HSH) stellt hierzu das Thema Auffindbarkeit in den Mittelpunkt der Überlegungen. Programmangeboten mit gesellschaftlich wünschenswerten Inhalten (Public Value) könnte, so Fuchs, ein besonderer Auffindbarkeitsvorteil eingeräumt werden.
Ab dieser Ausgabe des Programmberichts werden den programmlichen Trends und Entwicklungen zudem auch aktuelle Nutzerdaten zur Seite gestellt. Der Blick auf die Informationsanteile in deutschen Fernsehvollprogrammen wird damit ergänzt um Erkenntnisse darüber, wo und wie sich die Deutschen tatsächlich informieren. Auch die Bedeutung regionaler und lokaler Nachrichten – für viele ein ganz wichtiges Element – wird hier thematisiert.
Für die kontinuierliche Programmforschung der Medienanstalten werden seit 1998 zweimal pro Jahr die acht reichweitenstärksten Vollprogramme in einer kompletten Woche aufgezeichnet und analysiert, und zwar jeweils im Herbst und im Frühjahr. Die Langzeitstudie wird von der GöfaK Medienforschung GmbH, Potsdam, unter der Leitung von Professor Dr. Joachim Trebbe und Professor Dr. Hans-Jürgen Weiß durchgeführt.
Der „Programmbericht 2013. Fernsehen in Deutschland“ ist unter der Federführung von Thomas Fuchs (Direktor der MA HSH) entstanden und wird herausgegeben von den Medienanstalten (ALM GbR). Er ist soeben im Vistas-Verlag erschienen und zum Preis von 15,00 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-89158-597-9). Eine PDF-Version gibt es unter www.die-medienanstalten.de/service/publikationen/programmbericht.html.