Aktenzeichen XY... aufgelöst!

Als Kind machte Aktenzeichen XY... ungelöst großen Eindruck auf mich. Die Sendung kam mir vor wie ein Ausbund an Seriosität, auch wenn ich damals natürlich kaum wusste, was gemeinhin als seriös zu bezeichnen ist und was nicht. Aber die getragene Miene Zimmermanns, die unaufgeregten Zwischenstimmen aus Wien und Zürich, dazu Einspieler, die wie ein sachliches Polizeivideo wirkten - all das festigte schon einen gewissen seriösen Ruf, den die Sendung bis heute hat. Ohne Zweifel ist Aktenzeichen XY auch heute noch ein seriöses Format, vergleicht man es mit dem, was uns das Fernsehen sonst so schenkt. Aber der nüchterne Ton der Sachlichkeit, die trocken auf Fakten aufgebauten Filme und der unaufgeregte Eifer der Personen im Hintergrund sind verschwunden - heute gestaltet sich die Sendung weniger rational und objektiv. Dieser Verlust des Spartanischen ist auch ein Verlust an Qualität und rüttelt am eigenen Sendungsbewusstsein.
Ein Studio in Betriebsamkeit

Teilweise könnte man den Eindruck erlangen, dass Aktenzeichen XY mit einem Ermittlungs- und Aufklärungsformat wenig zu tun hat. Das früher so farblos getragene Konzept, das sich auf Inhalte versteifte, das Fakten und Indizien lieferte, stand dem Rahmen der Sendung gut zu Gesicht. Das ocker gefärbte Studio, so muß man schon zugeben, wirkte nie besonders freundlich - aber das Motiv der Sendung war ja auch nicht Freundlichkeit, sondern die Aufklärung von Verbrechen, daher passte das auch farblich. Jetzt plötzlich turnen Ermittler und Stichwortgeber durch das Studio, im Hintergrund rumort es stetig und neulich beschloss Rudi Cerne seine Sendung, indem er einer im Studio anwesenden Polizistin mitteilte, sie habe Anrufe von Verehrern erhalten. Letzteres war auflockernd gemeint, aber es schien doch wenig angemessen und raubte der Sendung abermals die Getragenheit, die ihr einst Seriosität verliehen hat.
Man wird auch den Eindruck nicht los, dass die Telefonzentrale im Hintergrund weniger wirkliche Funktion hat, als sie Suggestion sein soll. Da werden womöglich weniger "sachdienliche Hinweise" als Rührigkeit und Fleiß der Polizei vermittelt. Man soll als Zuschauer das Gefühl nicht loswerden, dass der heiß errötete Draht nie abkühlt, dass wie im Sekundentakt Fälle in die Nähe von Aufklärung rücken. Dieser Mensch vom Bayerischen Landeskriminalamt, der in jeder Sendung Zwischen- und Endstand verkündigt, wirkt stets sachgerecht außer Atem gesetzt und wie Wild gehetzt - wie souverän doch Peter Nidetzky und Konrad Toenz waren, die trocken aus ihren Studien in Wien und Zürich verlasen, was an Hinweisen hereinkam. Sie wirkten wie Technokraten, das stimmt schon - lächelten nicht, waren unerbitterlich humorlos, steckten in billigen Anzügen. Doch genau diese Grauheit kam dem Format zupass; Selbstdarstellung wurde pfleglich vermieden. Aktenzeichen XY war einst die stoische Trotzburg gegen das Verbrechen im Fernsehen - heute ist sie die in Bildern festgehaltene Hektik, die man dem Verbrechen entgegensetzt. Dieser unbeteiligt wirkende Gleichmut vergangener Tage entsprach der Agenda der Sendung - da waren kühle Analytiker und Hinweisverwerter am Werk, die nicht durch Show, sondern durch eifriges Sammeln und Auswerten zum Fahndungserfolg beitragen wollten. Die nervöse Betriebsamkeit von heute führt sicherlich auch zu Erfolgen, wirkt jedoch eher wie das wilde Herumschwirren eines provozierten Bienenschwarms als wie die nüchterne Arbeit von polizeilichen Fachkräften.
Diebe auf den ersten Blick
Die Einspieler heute unterscheiden sich eklatant von denen, die vor vielen Jahren noch Aktenzeichen XY ausmachten. Natürlich sind die laienhaft motivierten Dialoge geblieben. Die gab es auch damals. Bevor in den Filmen heute das Verbrechen geschieht, vermittelt man einen Eindruck über ein privates Idyll, in welches gleich das Unglück einbricht. Die Opfer erleben das ja auch sicher so, ob allerdings das Malen von Weiß und Schwarz notwendig ist, um dem Zuschauer den Sachverhalt nahezubringen, bleibt dahingestellt. Diese Betonung von Gegensätzen ist heute ausgeprägter als vormals; es ist auch zu vermuten, dass man hier gezielt die emotionale Schiene bedient, wie man das heute gerne tut und die bei Aktenzeichen XY in frühen Tagen nicht befahrbar war. Kurios ist manche filmische Darstellungsweise. Zu Zimmermanns Zeiten wurden die unbekannten Täter zwar auch filmisch dargestellt, nur sah man weitestgehend das Gesicht des Mimen nicht. Man wollte die Zuschauer nicht vorprägen und konditionieren, abrichten auf das Gesicht eines Darstellers, der zwar vielleicht Ähnlichkeit mit dem wirklichen Täter aufweisen konnte, aber eben doch nicht der Täter war. Anfang 2012 wurde erstmals ein Aktenzeichen XY-Darsteller dingfest gemacht; festgenommen von der Stuttgarter Polizei  - man hatte ihn in der Sendung gesehen und sein Gesicht hatte sich als das des Täters festgebrannt. So macht man Diebe auf den ersten Blick - denn dieser erste Blick ist es, der jede ergebnisoffene Fahndung entweder weiterführt oder verhunzt; einmal gesehen - und sei es falsch gesehen - und ein Bild setzt sich in Gedanken fest.
Nicht minder kurios, wenn auch vielleicht mit weniger drastischen Folgen, sind Filme, in denen man als Zuschauer plötzlich den Blickwinkel eines Mordopfers einnimmt, kurz vor dem Sturz zu Boden oder schon am Boden liegend, mit den Augen des Sterbenden zusieht, wie der Täter abzieht, wie er vielleicht noch die Taschen leert oder das blutige Messer abwischt. Grob verfälschend mag das nicht sein, aber makaber und effekthaschend ist es dennoch. Der Zuschauer von Aktenzeichen XY soll eigentlich Informationen und Fakten erhalten, um daraus vielleicht Hinweise zu rekrutieren. Was die Verschiebung des Blickwinkels, die ja nichts als Spekulation ist, an Hinweisen ergeben soll, kann nicht sinnvoll beantwortet werden.
Blut, Sitzkreis und Tränen
Das Plot von damals würde heute langweilen. Insofern ist eine Modernisierung der Sendung natürlich nicht zu beanstanden. Gewisse Neuerungen sind aber mehr als gewöhnungsbedürftig. So ist es nun Sitte, dass gelegentlich Hinterbliebene von Mordopfern ins Studio eingeladen werden. Dort formen sie einen Sitzkreis, einen Halbkreis und berichten über die Qualen der letzten Monate, die in ihr Leben einbrachen. Bei allem nötigen Respekt vor diesen Leidenswegen: Welchen Erkenntniswert, welche Fakten sollen dem Zuschauer so geliefert werden? Eine unglückliche Mutter mag Herzen berühren, hilft aber bei der Verbrechensaufklärung wenig. Die Trübung durch emotionale Anteilnahme hemmt Ermittlungen und beeinträchtigt Zeugen. Und immerhin sind die Zuseher von Aktenzeichen XY nicht weniger als potenzielle Zeugen - und dementsprechend sollte man einige Standards, die im Umgang mit (möglichen) Zeugen zu berücksichtigen sind, einhalten. Zugunsten der Emotion, die heute offensichtlich auch in einer seriösen Sendung nicht mehr fehlen soll, trübt man den klaren Blick, manipuliert man die Objektivität, die ja im Erinnerungsvermögen von Zeugen ohnehin nur sehr porös ist.
Unlängst präsentierte Rudi Cerne einen Fall, der auch mittels Film vorgestellt wurde. Im Anschluss fand sich kein polizeilicher Mitarbeiter ein, um die Ermittlungen zu belegen und um Mithilfe zu bitten, sondern eine Psychologin, die in einem kurzen Gespräch erläutern sollte, welche seelische Grausamkeit das im Film gesehene Opfer zu ertragen hatte und wie man nun therapiert. Dass das weder besonders spannend noch aufklärerisch war, bedingt durch die Kürze der Zeit, ist die eine Sache - was eine solche Aufarbeitung des Falles in einer Sendung zu suchen hat, die sich der Aufklärung von Verbrechen verschrieben hat, kann wahrscheinlich niemand beantworten. Auch hier überwiegt die emotionale Komponente, auch hier verweigert man die Nüchternheit, die dem Sendeformat eher zupass kommen sollte.
Banale Crimetime
Verbrechen thematisch zu behandeln heißt für die Medien heute auch, Worte des Trostes und der Anteilnahme zu spenden, und eine inhaltliche Verlagerung auf Gefühlsebene zu begehen. Ohne Emotionalität ist die Behandlung von Verbrechen nicht mehr denkbar, nicht mal in einer Sendung, die Ermittlungen vorantreiben und wiederbeleben will, die sich also qua Konzept mehr dem Täter als dem Opfer widmen sollte. Zudem braucht das Verbrechen heute ein Gesicht, da läßt sich Aktenzeichen XY neuerdings von Vorabendserien des Privatfernsehens inspirieren; der gut durchdachten Ansatz von früher, den Täter im Film anonymisiert und gesichtslos vorgehen zu lassen, um etwaiges Erinnerungspotenzial zufällig zuschauender Zeugen nicht leichtfertig zu zersetzen, zu zerstreuen oder zu beeinflussen, ist endgültig in der Mottenkiste gelandet.
Aktenzeichen XY war lange Jahre eine nüchterne, eine stoische Sendung. Man hatte den Eindruck, es ging tatsächlich um Aufklärung, um effektives Vermitteln von Tatbeständen, die der Zuschauer ergänzen soll - man glaubte, es sei keine Unterhaltung im eigentlichen Sinne, sondern es wird ohne Rücksicht auf das, was der Zuschauer gerne sehen möchte, um sich zu unterhalten, gesendet. Das machte den Charme der Sendung aus - und es formte die Seriosität, die man dieser Sendung attestierte. Dass es denen von Aktenzeichen XY um Wahrheit gehe, konnte man glauben - und vermutlich war das auch ein Motiv. Heute ist nicht auszuschließen, dass es den Beteiligten immer noch darum geht, aber sie tun viel dafür, dass man das nicht mehr ganz so blauäugig glauben darf. Die Sendung gleitet ab, sie wird zur banalen Crimetime, die durch lästige Faktenlagen und Polizeiberichte gestört werden. Vielleicht ist es zu viel, vom Niedergang einer Sendung zu sprechen. Die Tendenz weist aber dorthin.
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