AIDA von Giuseppe Verdi an der Deutschen Oper Berlin – Im Herzen von Radames

Von Theaternomadin

Es gibt Opernvorstellungen, von denen man sich richtig schön berieseln lassen kann. An solchen Abenden lehnt man sich entspannt zurück und erträumt sich mithilfe von opulenten Ausstattungen in andere Länder und Welten. Man fantasiert sich in dargestellte Helden und Heldinnen hinein und genießt ein paar Stunden Flucht aus der eigenen Realität. Benedikt von Peters Inszenierung von Giuseppe Verdis Aida an der Deutschen Oper Berlin ist keine von diesen gemütlichen Vorstellungen - aber sie macht gerade die beschriebene Sehnsucht zum Thema.

Sieht aus wie die Sehnsucht nach Ägypten

Der Bühnenaufbau von Katrin Wittig ist minimalistisch und alles andere als orientalisch oder generell exotisch. Gespielt wird auf der Vorbühne, also dort, wo sonst das Orchester versenkt ist. Von hier ragt ein breiter Steg einige Meter in den Zuschauerraum. Hinter der Spielfläche ist das Orchester mitsamt Dirigent platziert, welche nur durch eine schwarze Gaze von der Szene getrennt sind und so den ganzen Abend gut sichtbar bleiben. Auf der Bühne und an den Seiten des Portals befinden sich viele Monitore, die entweder den dynamischen Andrea Battistoni am Pult oder ausdruckslose und namenlose Gesichter zeigen. Und zuletzt steht da ein Schreibtisch, worauf neben aktuellen Zeitungen auch Lesestoff über ein gewisses weit entferntes Land liegen. Dieses Arrangement wird von einer Kamera als Top-Shot aufgenommen und auf eine Leinwand darüber projiziert.

Ja, das riecht schwer nach Regietheater und jeder, der den Duft von Pyramidenstaub und Elefantendreck erwartet hatte, wurde enttäuscht. Aber hat der Abend dann noch irgendetwas mit einer gewissen Oper von Verdi zu tun?

Traumfrau Aida

Ohne Zweifel erfordert der von Benedikt von Peter konzipierte Abend vom Zuschauer viel Fantasie und die Bereitschaft, sich auf seine spezielle Lesart von Giuseppe Verdis Aida einzulassen. Denn die Geschichte der Oper wird nicht als realistische Handlung erzählt, sondern als Vision bzw. Fiktion eines Mannes namens Radames. Dieser Typ - ein regelrechter Normalo mit Hornbrille und Wollpulli - sehnt sich nicht nur nach einem anderen Leben an einem anderen paradiesischen Ort (vielleicht Ägypten, Äthiopien oder etwas, das er dafür hält?), sondern auch nach einer anderen Frau. Das Stück beginnt schon während dem Einlass mit diesem Radames, der ein Tüllkleid umschlingt. Welche Frau hat dieses Kleid wohl getragen? Seine Ehefrau kann es nicht sein, denn sie - Amneris - trägt gewiss nicht die gleiche Konfektionsgröße. In Form dieses schlichten und trotzdem märchenhaften und geisterhaften Kleidungsstückes ist das Phantom eines weiblichen Wesens, das Aida genannt wird, die ganze Vorstellung über präsent. Kein Wunder, dass Amneris sich vernachlässigt und missachtet fühlt und in der Traumgestalt eine tatsächliche Rivalin sieht. Während die reale Frau sich um die banalen, aber lebenswichtigen Bedürfnisse ihres Mannes kümmert und ihm mit wütender Zuneigung Wurstbrote schmiert, träumt Radames von einer utopischen Liebe - und davon, ein Held zu sein.

Triumphmarsch vor dem inneren Auge

Aber spätestens seit Spiderman wissen wir alle: Aus großer Kraft folgt große Verantwortung. Und auch wenn Radames' jugendlich-naiver Idealismus ihn antreibt, ist ihm die Verherrlichung als Held, der siegreich aus der Schlacht hervorgeht, unangenehm. Aber den Wunsch, den ihm der König erfüllen möchte, schlägt er dann doch nicht aus. Er fordert aber nicht die Freilassung von äthiopischen Gefangenen, sondern um die Grenzöffnung für syrische Flüchtlinge. Wenn darüber dann die zwei Parteien des Volkes streiten, wird die tatsächliche Aktualität der Szene umso deutlicher, denn Benedikt von Peter hat Chor und Extrachor vereinzelt mitten in den Zuschauerraum gesetzt. Von dort aus donnert es "morte ai nemici della patria" (Tod den Feinden des Vaterlandes) und klagt es "grazie per gli infelici" (Erbarmen mit den Unglückseligen). So klingt es ganz buchstäblich aus den eigenen Reihen und damit so nah, dass einem fast die eigene Kehle vibriert. So sieht politisches Theater aus, das ganz ohne plakative Holzhammerästhetik auskommt.

Ein Plädoyer für Liebe in der Realität

Neben diesem politischen Aspekt ist und bleibt Aida auch bei Benedikt von Peter ein Beziehungsdrama, das sich allerdings auf einer anderen Ebene abspielt als die Vorlage. Die eifersüchtige Amneris durchlebt als starke Partnerin bereitwillig alle Sehnsüchte von Radames - sie zwingt ihn dazu, sich all seinen Wünschen zu stellen und bis zum Ende zu durchdenken.

Am Ende zündet er ganz nah am Publikum auf dem einsamen Steg eine Kerze für Aida an, die zusammen mit ihm in einen paradiesischen Zustand eingehen will. Sie ist zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Stimme in seinem Herzen - der Stein, den er nicht aus eigener Kraft bewegen kann. Zuletzt erlischt die Kerze und mit ihm die Fantasie von einer Frau, die nur Utopie sein kann. Am Ende dieser Vision von Radames steht Amneris auf - zwar geschwächt aber erwartungsvoll auf ihren Mann blickend. Und auch er erhebt sich in der Stille nach Verdis letzten Klängen der Oper und erkennt zum ersten Mal deren unverwüstliche und wunderbar reale Liebe.

Kritik auf Kulturradio vom rbb vom 23. November 2015 Kritik auf NMZ online vom 23. November 2015 Kritik auf Deutschlandfunk vom 23. November 2015 Kritik auf Berliner Morgenpost vom 23. November 2015 Kritik auf BR-Klassik vom 22. November 2015 Kritik auf Concerti vom 22. November 2015 Kritik auf Die Deutsche Bühne vom 23. November 2015 Aida. Opera lirica in vier Akten von Giuseppe Verdi (UA 1871 Kairo)

Deutsche Oper Berlin
Musikalische Leitung: Andrea Battistoni
Regie: Benedikt von Peter
Bühne: Katrin Wittig
Kostüme: Lene Schwind
Video: Bert Zander
Lichtdesign: Ulrich Niepel
Dramaturgie: Dorothea Hartmann

Besuchte Vorstellung: 22. November 2015 (Premiere)