Aida in Hildesheim??

Von Stscherer

© TfN Hildesheim

Aida in Hildesheim!!

Tatsächlich, das funktioniert, und zwar auf der Bühne des Theaters für Niedersachsen (TfN).

Das TfN ist Stadttheater und Landesbühne in einem. Mit der Spielzeit 2007/08 ging das TfN als Zusammenschluss von Stadttheater Hildesheim und Landesbühne Hannover an den Start. Das Hildesheimer Haus kann von seiner über 100jährigen Theatererfahrung profitieren: Bereits im Jahr 1909 wurde das Stadttheater mit Hilfe von engagierten Hildesheimer Bürgern gegründet. Heute spielt es nicht nur in Hildesheim, sondern auch in Hannover, Langenhagen, Clausthal-Zellerfeld und Goslar, darüber hinaus hat es eine eigene MusicalCompany und gastiert in vielen Orten in Niedersachsen. Nähere Informationen finden Sie hier: TfN – Theater für Niedersachsen: SPIELPLAN.

Doch Aida, das ist für so ein kleines Haus schon eine echte Herausforderung: aber anlässlich einer umfangreichen ägyptologischen Ausstellung im weltbekannten hildesheimer Roemer-und-Pelizaeus-Museum (Roemer-Pelizaeus Museum: Home) wagte man sich an diese Aufgabe: immerhin handelt es sich bei dieser Oper von Guiseppe Verdi in vier Akten um ein echtes Schwergewicht, nicht zuletzt wegen der Massenszenen, die man sich auf der klitzekleinen Bühne in Hildesheim zunächst kaum vorstellen kann – meine Frau und ich umso weniger, als wir die letzte Aida-Aufführung auf einer der grössten Bühnen der Welt gesehen haben (was den Platz betrifft, nicht den künstlerischen Anspruch), nämlich im Amphitheater von Verona: 6 Stunden, jede Arie 3x, nämlich in der Mitte der Bühne, dann rechts, dann links, und zwischendurch Getränkeverkäufer, deren markerschütternde Schreie mir jetzt noch Trommelfellschmerzen bereiten – insgesamt mehr Spektakel denn Operngenuss.

Insgesamt waren meine Frau und ich ein wenig skeptisch, doch letztendlich gab ein anderer Umstand den Ausschlag, es einmal mit “Aida in Hildesheim” zu versuchen: unser Sohn Max sollte zum ersten Mal mit in die Oper gehen, also nicht nur ins Theater zu einer Kinderaufführung oder zu Musical oder Operette, sondern ein Abend mit “schwerer Kost” – da schien uns Aida trotz italienischer Originalsprache durchaus passend. Im ersten Augenblick mag dies ein bisschen unverständlich klingen, aber im zweiten Augenblick kann man es vielleicht nachvollziehen: natürlich fesselt einen siebenjährigen Jungen die Musik nicht vollständig, und  gerade deswegen benötigt er eine lebendige Handlung auf der Bühne, eine Handlung, die ihn fesselt, die ihm über manche “langweilige” Arie hinweghilft – und auch über die Sprachschwierigkeiten, denn schliesslich war es die italienische Originalfassung, die gegeben wurde. im übrigen war die Aufführungszeit “kinderfreundlich”, begann sie doch schon um 17:00 Uhr und endete gegen 20:15 Uhr am Ostermontag während der Ferien.

Ja, so war Alles wohl überlegt – und doch wurden unsere Sorgen mit jedem Tag, den die Aufführung näher kam, grösser: schafft Max tatsächlich 3 Stunden Oper in italienischer Sprache, oder ist er nach ein bis zwei Akten so genervt, so gelangweilt. dass er anderen Opernbesuchern nicht mehr zuzumuten ist. Immerhin, so trösteten wir uns, wir hatten Karten im ersten Rang an der Seite direkt an der Ausgangstür, der Fluchtweg war also eröffnet.

Doch gebraucht haben wir ihn nicht, den Fluchtweg: Max fand Aida “cool” und sass die ganze Zeit über still und fasziniert in seinem (mit einem vom Theater zur Verfügung gestellten Kissen erheblich erhöhten) Theatersessel. Einige Fragen während der Aufführung konnten durch die immer entspannteren Eltern fachmännisch und in den jeweiligen Pausen (oder den sehr lauten Passagen) ohne Störung der Nachbarn beantwortet werden – insgesamt war das Kind wesentlich ruhiger als so mancher Erwachsene, der durch Rascheln, Husten, Schnäuzen oder Plappern negativ auf sich aufmerksam machte.

Und schon in der Pause zeigte sich Max begeistert von der Opern: da will er jetzt öfter hin, verkündete er spontan.

Die Aufführung selber war allerdings auch sehens- und hörenswert. Natürlich wirkten die Massenszenen auf der sehr kleinen Bühne in Hildesheim etwas gedrängt und um so manche Tänzerin musste man Sorgen haben, wenn sie ihren Sprung abrupt vor einem im Weg stehenden Komparsen abbremsen musste, aber da tatsächlich diese Szenen mit grosser Menschenansammlung auf der Bühne nur einen geringen Teil der Bühnenzeit ausmachten, war es über alles gesehen eine sehr stimmige Aufführung. Auch das Bühnenbild war angemessen und durchdacht, sodass der äussere Rahmen für die Sänger äusserst ansprechend war.

Und diese Sänger waren durchweg überaus hörenswert: das TfN griff insoweit zum Teil auf Gaststars zu, die durchaus beachtliche Qualität und Reputation haben:

So wurde die Aida von der Amerikanerin Tamara Haskin gesungen. In ihrer Heimat sang sie schon mehrere Rollen in zeitgenössischen Opern, war aber auch als Aida und Tosca an die Oper von Minnesota und Skopje verpflichtet. Darüber hinaus gehören Mozarts Fiordiligi (‚Così fan tutte‘) und Puccinis Musetta (‚La Bohème‘) zu ihrem vielseitigen Opernrepertoire. Doch auch als Konzertsängerin feiert die Sopranistin regelmäßig Erfolge, etwa mit Beethovens ‚Neunter‘ oder dem Verdi-Requiem.

Die zweite weibliche Stimme, diejenige der ägyptischen Königstochter Amneris, wurde gesungen von Sandra Fechner, einer Hannoveranerin mit ebenfalls ansehnlicher Reputation. Im Jahr 2000 wurde sie erste Preisträgerin des Internationalen Richard – Wagner – Gesangwettbewerbs in Saarbrücken und gewann u. a. 2001 Preise des Deutschen Musikrats. Von 2002 bis 2006 war Sandra Fechner festes Ensemblemitglied des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden. Gastspiele führten die Sängerin u.a. an die Opernhäuser von Hannover, Darmstadt, Schwerin, Hagen und Aachen. Sie sang mittlerweile zahlreiche Partien wie z. B. Dorabella (»Così fan tutte«), Olga (»Eugen Onegin«), Cornelia (»Julius Cäsar«), Carmen und Türkenbaba (»The Rake’s Progress«). Daneben wirkte sie in zahlreichen Konzerten und Liederabenden mit.

Radames wurde gesungen von Christian S. Malchow, der fest am Theater für Niedersachsen engagiert ist. Der in Lübeck geborene Tenor wechselte nach seinem Studium an die Sächsische Staatsoper Dresden (Semperoper) als Mitglied im 1. Tenor des Staatsopernchores. Dort hatte er die Möglichkeit mit Dirigenten wie Sir Colin Davis und Zubin Mehta zu arbeiten. 2008 ging er nach Zuraten des Intendanten der Semperoper Prof. Gerd Uecker als Solist an das Mittelsächsische Theater Freiberg. Er sang dort u.a. den Cavaradossi (Puccini: “Tosca”), Max (Weber: “Freischütz”) und Dimitri (Alfano: “Auferstehung”).

Der kanadische Bariton Andrew Greenwood sang den Amonasro, wobei sein Repertoire sehr, sehr umfangreich ist und von Bizet und Britten über Mozart, Puccini und Rossini bis zu Tchaikowsky und Verdi reicht. Er selbst ist an vielen europäischen und aussereuropäischen Opernhäusern aufgetreten, so in Wolfsburg, Prag, Vancouver, Lausanne oder an verschiedenen Bühnen in Spanien.

Schon bei der vorhergehenden Aufführungen waren die Pressestimmen zur Aida in Hildesheim durchweg positiv; so berichtete man unter www.opernetz.de Folgendes:

Bilderwellen auf dem Nil. Spätestens seit der letzten Spielzeit hat das kleine Stadttheater Hildesheim gezeigt, dass es im Musiktheater nicht nur schonungslos wagemutig, sondern auch ausgesprochen erfolgreich sein kann – zumal mit Werken, die niemand unbedingt an einem Haus dieser Größe erwartet. Zum 100. Geburtstag des Theaters brachten Generalmusikdirektor Werner Seitzer und Regisseur Hans-Peter Lehmann eine in allen Punkten höchst beachtliche Produktion von Richard Wagners ‚Die Meistersinger von Nürnberg’ heraus. In dieser Saison gilt es ein weiteres Jubiläum im Theater zu feiern, Seitzer und Lehmann traten wieder an, und bescherten dem Haus aufs Neue einen Triumph. Den gab es auf der Bühne ohnehin zu sehen, es geht nämlich um Verdis ‚Aida’ mit ihrem zum Ohrwurm gewordenen Triumphmarsch. […]  Hans-Peter Lehmann und sein Ausstatter Bernhard Kilchmann haben sich […] dazu entschlossen, die Geschichte zur Originalzeit, im Ägypten der Pharaonen, zu zeigen. Grundelement des Bühnenbilds ist die Pyramide, die genauso am Bühnenhorizont wie auf einer grauen Zwischenwand bis hin zur Grabkammer im Schlussbild erscheint. Effektvolle Requisiten füllen diese Räume mit Leben, darunter, als Reverenz an das Museum, einige Zitate markanter Exponate. Neben dem Bühnenbild sind es aber vor allem die ebenso prachtvollen wie aufwändigen Kostüme, die der Spielzeit der Geschichte nachempfunden sind. Da springt eine Opulenz von der Bühne auf den Zuschauer über, die kaum noch gewohnt, dabei wundervoll anzusehen ist und gleichzeitig der Leistungsfähigkeit der Kostümabteilung allen Respekt abverlangt. In diesem Gewande erzählt Hans-Peter Lehmann die Geschichte klar und schnörkellos und mit dem großen handwerklichen Erfahrungsschatz eines vielgefragten Regisseurs. […] Werner Seitzer sorgt einmal mehr für eine musikalische Qualität, die staunen macht. Präzise und absolut souverän führt er sein Orchester durch die Partitur, sorgt ebenso für kammermusikalische Spannung wie für die große dramatische Geste. Nicht nur seine Musiker, sondern auch die Chormassen auf der Bühne, einstudiert von Achim Falkenhausen, hat er sicher im Griff und schafft stets eine ausgewogene Balance zwischen Bühne und Graben. […] Aus dem Ensemble ragt Veronica Simeoni mit einer stimmlich überragenden Amneris heraus. Mit ihrem in allen Lagen ausgeglichenen und gut geführten Mezzosopran bringt sie alles ein, was die Partie vokal erfordert. Hoch in der Publikumsgunst stand auch Tamara Haskin als Aida. Optisch ist sie eine ausgesprochen attraktive Besetzung für die Rolle, nimmt mit einigen großartig gesungenen Momenten auch stimmlich für sich ein. […] Prägnant und mit imposantem Bariton war Andrew Greenwood der Amonasro und Ernst Garstenauer mit seinem charaktervollen Bass der Ramphis. […] Am Ende feierten die Hildesheimer eine insgesamt nicht nur überzeugende, sondern einmal mehr beachtliche Aufführung mit stehenden Ovationen und großem Jubel für alle Beteiligten. Der Weg nach Hildesheim lohnt sich wieder!“

Und im Opernglas 2/2011 war zu lesen:

„Das eher kleine, aber feine Hildesheimer Stadttheater schreit auf den ersten Blick zwar nicht gerade nach Monumental-Opern, aber man hat in der Vergangenheit schon oft bewiesen, das man mit vereinten und klug koordinierten Kräften keine unnötige Scheu vor gewaltigen Stücken zu haben braucht. […] Hannoverse ehemaliger, langjähriger Intendant Hans-Peter Lehmann ist dem Haus der kleineren Nachbarstadt schon seit langem freundschaftlich verbunden […] Inszeniert hatte er ‚Aida’ bereits in Mainz, Wiesbaden und Hannover. Dieses  Mal sollte Verdis Ägypten-Opus als Festoper für einen besonderen Anlass dienen: Hildesheims weltberühmtes Roemer- und Pelizaeus-Museum […] wird 2011 einhundert Jahre alt. Hatte Lehmann schon in seine Hildesheimer ‚Meistersinger’-Inszenierung vor einem Jahr viele szenische Verweise auf die Stadtgeschichte geschickt integriert, begegnet man in der ‚Aida’, liebevoll arrangiert, einigen der wichtigsten Exponaten des Museums wieder. Bernard Kilchmann hatte sie mit viel Geschmack in das Bühnenbild integriert. Selbst auf der kleinen Hildesheimer Bühne navigierte Lehmann die Massen zwingend und doch stets koordiniert. Im Nilakt nutzte er die ganze Bühne und im Schlussbild die räumliche Enge der Grabkammer perfekt. Die Präsentation auf der Bühne bot zudem einen perfekten Rahmen für eine musikalische Gesamtleistung, die einmal mehr staunen machte: Werner Seitzer bündelte alle Kräfte perfekt und mit unzweifelhafter Zeichengebung. […] Achim Falkenhausen hatte seine Chöre ebenfalls sehr gut präpariert und ließ vergessen, dass man hier nur mit zahlenmäßig reduzierter Mannschaft antreten konnte. Das Sängerensemble war mit sehr viel Sensibilität, Fachkenntnis und einem guten Gespür für junge Talente zusammengestellt worden und enttäuschte auf keiner einzigen Position: Für die Titelpartie hatte man mit der Amerikanerin Tamara Haskin eine Sopranistin gewinnen können. […] Die dunkel gefärbte, voluminöse Stimme kommt sicher durch die Partie […] Als Radames hatte man mit dem jungen Christian S. Malchow ebenfalls einen Sänger mit erheblichem Potenzial zur Verfügung. Sein Tenor ist von der Anlage her ein lyrischer mit einem beachtlichen Strahl in der Höhe, und diese Kombination bekommt dem Radames besonders gut. […] Veronica Simeoni […] Ihr warmer Mezzosopran sprach in allen Lagen bruchlos an, verfügt über Kern und Strahlkraft auch in der Höhe sowie eine geradezu balsamische Tiefe. […] Eine weitere Entdeckung war der Amonasro Andrew Greenwoods. Greenwoods Stimme ist von bestechender Textur. […] Ernst Garstenauer als etwas teutonischer, aber vokal bedrohlicher Ramphis, Piet Bruninx’ solider König sowie Antonia Radneva als stimmlich verlockende erste Priesterin trugen zusammen mit Oleg Sopunovs Boten dazu bei, dass das Hildesheimer Ensemble einmal mehr über sich hinauswuchs.“

Die gestrige Aufführung schloss sich diesem positiven Eindruck nahtlos an – und war eben, wie Max sagte, “cool”.

Photo: Theater für Niedersachsen (TfN), Hildesheim