Warten können
Weihnachten rückte näher, und wie in jedem Jahr fragte sich Markus, was er diesmal von seinen Eltern geschenkt bekommen würde. Des Öfteren schlich er seiner Mutter nach. Er tat so, als wolle er ihr bei der Arbeit helfen. In Wirklichkeit aber wollte er nur herausbekommen, welches Weihnachtsgeschenk sie für ihn gekauft hatten. „Glaubst du, ich wüßte nicht, was du mit deiner Fragerei herausbekommen willst?”, sagte Mutter schließlich. „Aber bis Weihnachten wirst du dich schon noch gedulden müssen,
Markus. Überleg’ einmal selber: Wenn ich dir jetzt schon sagte, was du geschenkt bekommst, dann wäre es gar keine Überraschung mehr für dich. Auch das
Warten und die Vorfreude gehören zum Weihnachtsfest dazu.” „Aber es dauert noch so lange bis Weihnachten”, stöhnte Markus. „Noch vier Wochen.” „Ich weiß, was wir tun werden, damit dir das Warten nicht ganz so schwerfällt”, sagte Mutter und lächelte. Am Sonntag war erster Advent. Mutter hatte einen Adventskranz aus Tannenzweigen mit vier Kerzen gekauft und ihn auf den Wohnzimmertisch gestellt. Markus durfte die erste Kerze anzünden. „Ich werde dir an jedem Adventssonntag etwas über dein Geschenk erzählen, sagte die Mutter. „So wird dir die Zeit bis Weihnachten nicht ganz so lang. Heute verrate ich dir, dass dein Geschenk eine braune Farbe hat. In der nächsten Woche überlegte Markus angestrengt, was Mutter gemeint haben könnte, aber er kam nicht darauf. Am zweiten Advent durfte er die zweite Kerze am Adventskranz anzünden. Mutter las eine Geschichte vor, und dann verriet sie ihm wieder etwas über sein Geschenk. „Du wirst es sehr lieb haben”, sagte sie. Aber auch das half Markus nicht sehr viel weiter. Denn es war doch klar, dass die Eltern für ihn ein Geschenk ausgesucht hatten,
das ihm gefallen würde. Als er am dritten Advent die dritte Kerze angezündet hatte, sagte Mutter: „Dein Geschenk kann man nicht nur sehen, sondern auch
hören.” Je mehr die Mutter über sein Weihnachtsgeschenk erzählte, umso spannender wurde es für Markus.
Als am viertenAdvent alle vier Kerzen am Adventskranz brannten und es bis Weihnachten nur noch wenige Tage waren, erzählte Mutter: „Dein Geschenk, Markus, hat noch gar keinen Namen. Den Namen musst du ihm selbst erst noch geben.”
Ein Geschenk ohne Namen – so sehr Markus darüber nachdachte, er kam nicht darauf, was es sein könnte. Als er am Heiligen Abend dann endlich in das Wohnzimmer gerufen wurde, lag da ein kleiner Hund, ein Dackel, auf einer Decke unter dem Weihnachtsbaum. Vor Überraschung und Freude bekam Markus zuerst gar kein Wort heraus. Er nahm den kleinen Hund auf seine Arme und streichelte ihn. „Wie wirst du es denn nun nennen – dein Weihnachtsgeschenk ohne Namen?”, fragte Vater. „Ich weiß noch nicht. Das muss ich mir erst noch überlegen”, antwortete Markus. „Lass dir nur ruhig Zeit”, sagte Mutter.
„Du hast ja jetzt gelernt, dass alles seine Zeit braucht. Vor Weihnachten kommt nun einmal zuerst die Adventszeit: die Zeit des Wartens. Aber umso größer ist am Ende die Freude. Ist es nicht so, Markus?” Markus nickte und sah stolz und glücklich auf den kleinen Hund in seinen Armen. Er fand, dass es das schönste Weihnachtsgeschenk war, das er je bekommen hatte.
ANDREAS KLEINSCHMIDT
Dietrich Steinwede, Heute tanzen alle Sterne: Das große Weihnachtsgeschichten und -liederbuch (c) Patmos-Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2011