[Adventskalender] 4. Dezember

[Adventskalender] 4. Dezember

 

CHRISTBAUMKUGEL

Oben auf dem Dachboden steht eine große Schachtel. Schon von außen sieht man ihr an, dass sie etwas Besonderes enthält. Sie ist
mit grünem Papier und goldenen Ster­nen beklebt, keine andere Schachtel sieht
so festlich aus wie diese. Die meiste Zeit des Jahres liegt sie unbeachtet
zwischen den anderen Kartons, doch kurz vor Heiligabend steigt die Mutter oder
der Vater auf den Speicher hinauf, pustet kräftig die dünne Staubschicht von
ihrem Deckel und trägt sie hinunter ins Weih­nachtszimmer. In Zeitungspapier
sicher verpackt liegen darin dicht an dicht die Christbaumkugeln. Und wenn man
den Deckel hebt und sich der Schein einer Adventskerze in den zarten Ge­bilden
aus Glas widerspiegelt, dann gibt ihr Funkeln einen Vor­geschmack auf die Pracht,
die sie am Weihnachtsbaum entfalten werden.

Ein armer Glasbläser aus dem kleinen Glasbläserort Lauscha in Thüringen, so erzählt man sich, kam als Erster
auf die Idee, Christbaumschmuck aus Glas an­zufertigen. Denn ihm fehlte das
Geld, um den Tannenbaum mit Äpfeln und Nüssen zu behängen, wie es zu der Zeit
Brauch war, und seinen Kinder auf diese Weise eine Freude zu bereiten. Deshalb
behalf er sich mit Glas, aus dem er den essbaren Baumschmuck nachbildete. Ob
diese Geschichte so stimmt? Wer weiß das schon. Immerhin hat­te der arme
Glasbläser erst einmal das Geld aufbringen müssen, um die Glasrohlinge zu
erwerben. Eine andere Erklärung lautet: Als die Glasbläser ihre Halsketten aus
wachsgefüllten Glaskügelchen nicht mehr loswurden, weil die Damenmode keine
unech­ten Perlen mehr verlangte, bliesen sie die Perlen zur Größe von Äpfeln
auf und hängten sie an den Weihnachtsbaum.

Unzweifelhaft aber ist, dass im Spielwaren-Musterbuch der Sonneberger Verleger, die die Produkte aus Lauscha
verkauften, im Jahr 1831 erstmalig kleine Früchte und Nüsse
aus buntem Glas abgebildet sind. Und 1848 ist im Auftragsbuch eines Glasbläsers
dann zum ersten Mal ein Auftrag über sechs Dutzend »Weih­nachtskugeln« in
verschiedenen Größen vermerkt. Fortan erfreuten sich die bunten Kugeln Jahr für
Jahr zunehmender Beliebtheit.

Wenn man am Abend, von der Spielwarenstadt Sonneberg kommend, mit der Bahn in gemächlichem
Tempo das immer enger werdende Steinachtal hinansteigt und sich [...] der End­station
Lauscha nähert, so kann man schon in den ersten Häu­sern der lang im Thale
hingestreckten Ortschaft einen oder mehrere bläuliche Lichtpunkte beobachten,
die man bald wie Glühwürmchen über das ganze Dorf verstreut %, findet.«
Es sind die Gasflammen der Glasbläser, die ein Reisender in. seinem Bericht vom
Ende des 19. Jahrhunderts beschreibt. In Lauscha, dem kleinen Ort im Thüringer Wald,
saßen in fast jedem Haus der Vater und die Söhne bis spät, in die Nacht
gemeinsam über den Bläsertisch gebeugt und formten mit der Kraft ihres Atems
und der Geschicklichkeit ihrer Hände feinste Glaskugeln. Über tausend Grad heiß
war die Flamme, in der die Heimarbeiter die glatten Rohlinge bis zum Glühen
erhitzten. Zähflüssig wie Honig wird dabei das Material — dies ist der Moment,
auf den der Glas­bläser gewartet hat. Er setzt den offenen Spieß des Rohlings an seine Lippen und bläst.
Und am anderen Ende entsteht eine per­fekte runde Kugel.

Fast bis zur Decke stapeln sich in den wenigen verbliebenen Familienbetrieben in der Saison auch heute noch, die Kisten mit
Christbaumschmuck. Auf Holzborden kühlen die fertigen Ku­geln
aus, und in den Händen der Frauen und Töchter werden sie zu den glitzernden
Wunderwerken, die zu Weihnachten die Bäume zieren. Mit einer Silbersalzlösung
verspiegeln sie die Glaskörper von innen. Mit feinen Pinselstrichen tragen sie
die schönsten Winterlandschaften, Sterne und Ornamente auf die glatte
Oberfläche auf, tauchen die hauchzarten Kunstwerke in Glitter oder umspinnen
sie mit glänzendem leonischem Draht. Will der Glasbläser einen Engel schaffen,
der aus den Zweigen lugt, einen Vogel, der auf einem Ast wippt, oder ein paar
Früch­te, die zum Anbeißen ausschauen, dann nimmt er eine Form zu Hilfe, die
sich wie eine Zuckerzange öffnen und schließen lässt.

Der amerikanische Kaufhausmagnat Woolworth war hingerissen von den Lauschaer Glaskugeln, so erzählt man, und
machte sie in den? 1890er Jahren in den USA zum Importschlager. Bis zu fünftausend
verschiedene Formen entwickelten die Lauschaer Glasbläser in den Jahren bis zum
Zweiten Weltkrieg. Mit der Zeit veränderte sich das Erscheinungsbild des
zerbrech­lichen Schmucks: Mal schaute das strenge Antlitz des Kaisers von den
Kugeln herab, mal wurden U-Boote und Zeppeline aus dem gefügigen Material
geformt, dann prägten die Nationalsozia­listen ihre Symbole hinein. Zu Zeiten
des Wirtschaftswunders in den fünfziger Jahren kam der Schmuck besonders
prunkvoll daher, später herrschte an den Bäumen edle Schlichtheit. Heut­zutage
schimmern die Kugeln in allen Farben, und jedes Jahr werden neue Trends kreiert,
längst nicht mehr nur in Lauscha.

Unbeeindruckt vom Zeitgeschehen und von jeder Mode hü­ten viele Familien in den Kartons auf ihrem Dachboden einen Schatz aus vergangenen Weihnachtstagen.
Schlichte Kugeln sind es oft, nicht übermäßig groß, vielleicht mit ei n paar
Sternen oder Eiskristallen verziert. Und doch werden sie mehr geschätzt als
alle edlen Kreationen aus neuerer Zeit, denn ihr Wert liegt in ihrer
Geschichte: Schon die Großeltern oder gar Urgroßeltern nah­men die hauchdünnen
Glasgebilde Jahr für Jahr aus ihrem wei­chen Bett, behutsam, damit bloß keine
von ihnen zerbrach. Und in den Zweigen des Tannenbaums haben die Kugeln viele,
viele Weihnachtsfeste begleitet, die glücklichen und auch die traurigen. Wenn
dann an Heiligabend die Kerzen angezündet werden, dann werfen die Kugeln ihren
Schein hundertfach zurück, so dass das ganze Zimmer in ihrem Glanz erstrahlt.

 

Der Text stammt aus dem Buch “Weihnachtszeit; ein Lesespaziergang durch den Advent”.

[Adventskalender] 4. Dezember

 

[Adventskalender] 4. Dezember

  • Autor: Iris Schürmann-Mock und Katrin Lankers
  • Titel: Weihnachtszeit; ein Lesespaziergang durch den Advent
  • Verlag: Gerstenberg Verlag; Auflage: 1 (29. August 2011)
  • ISBN: 978-3836926676
  • Seiten: 128

[Adventskalender] 4. Dezember


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