[Adventskalender] 12. Dezember

Von Favola

«Wir singen VOR dem Essen!»

Bislang war Heiligabend verdächtig ruhig verlaufen. Wir hatten die Begrüßung erstaunlich gut hinter uns gebracht und das seit dem umgekippten Fischtopf vor 30 Jahren stets problematische Aufeinandertreffen von Oma Lilly und Onkel Fred mit einem improvisierten Streit um den stollenfressenden Hund meiner Eltern überspielt. Der Nachmittagkaffee war ohne ernsthafteres Gebrüll zu Ende gegangen, und meine Mutter hatte sich schon erhoben, um sich in der Küche einer Batterie von gefüllten Enten zu widmen.
Da klatschte Tante Uschi in die Hände und tief: «So, jetzt singen wir!»
Lähmende Stille breitete sich am Tisch aus. Dann lachte meine Mutter auf. «Aber wir können in ein paar Minuten essen», sagte sie.
«Wir essen vor dem Singen?», fragte Tante Uschi verwirrt. «Das gab es doch noch nie.»
«Doch!», sagte mein Bruder, der einen minuziösen Ablaufplan für das diesjährige Weihnachtsfest auf Basis einer empirischen Studie der letzten Jahre ausgearbeitet hatte. «Wir essen VOR dem Singen. Und machen NACH dem Singen die Bescherung.»
«Moment!», erwiderte Tante Uschi. «Ihr wollt mit dem Singen wirklich so lange warten?»
«Genau», erwiderte mein Bruder und erhob sich. «Mama, sollen wir dir in der Küche …»
«Aber – das gab es doch noch nie!», protestierte Tante Uschi. «Wir haben immer nach dem Kaffee gesungen! Warum soll das jetzt auf einmal anders sein?»
«Das höre ich zu ersten Mal», meldete sich Oma Lilly. «Wir haben immer zuerst gegessen. Und dann war Bescherung.»
«Also nein! Zuerst war Bescherung. Und dann wurde gesungen. Und dann, vor der Kirche, haben wir gegessen», stellte Onkel Fred klar und schenkte sich einen Magenbitter nach.
«Aber das kann man doch auch mal ändern», versuchte meine Liebste zu vermitteln.
Tante Uschi warf ihr einen beleidigten Blick zu und öffnete den Mund.
Ich klatschte schnell in die Hände.
«Wie wäre es, wenn wir zwischendurch ein Spiel machen?», schlug ich heiter vor. «Stadt-Land-Fluss? Mensch ärgere dich nicht? Das Nasenspiel?»
«Einen Augenblick», sagte mein Vater. «Was ist denn eigentlich dabei, wenn wir dieses Jahr ausnahmsweise vor dem Essen singen? Nach diesem Essen geht es sowieso immer schlechter.»
«Was willst du damit sagen?», rief meine Mutter.
«Nun ja», erwiderte mein Vater und fing den warnenden Blick auf, den ich ihm zuwarf. «Nach dem Essen singt es sich eben nicht so leicht.»
«Papa!», raunte mein Bruder, leichte Schweißperlen auf der Stirn. «Wir haben drei Tage lang über den Ablauf des heutigen Tages gesprochen. Wir waren uns alle über die Reihenfolge einig. Du kannst jetzt nicht alles wieder in Frage stellen!»
«Aber wir können doch ein bisschen flexibel sein und Uschi und Fred auch mal einen Gefallen tun, wenn sie schon hergekommen sind, um mit uns zu feiern», beharrte mein Vater. «Warum singen wir nicht ausnahmsweise zuerst?»
«Oder wir machen zuerst Bescherung», murmelte Onkel Fred. «Und dann singen wir. Und zum Schluss essen wir.»
«Nein!», rief Tante Uschi. «Das kann doch nicht sein, dass du das vergessen hast! Wir haben immer zuerst gesungen.»
«Wann haben wir einmal zuerst gesungen?», fragte Onkel Fred.

«Letzte Weihnachten!», rief Tante Uschi. «Vorletzte Weihnachten ! Vorvorletzte Weihnachten …!»
Onkel Fred öffnete einen weiteren Magenbitter.
«Ich gehe jetzt in die Küche, und dann essen wir», rief meine Mutter.
Tante Uschi stöhnte auf. «Dass du immer deinen Kopf durchsetzen musst!»
«Lasst uns einfach so weitermachen, wie es geplant war», bat meine Liebste. «Komm, ich helfe dir in der Küche.»
Sie sprang auf und wollte meine Mutter behutsam durch die Küchentür schieben, als Tante Uschi rief: «Wollen wir nicht wenigstens bis zum Essen singen? Wäre das nicht ein Kompromiss?»
«Und wie bitte», fragte meine Mutter schroff, «soll ich gleichzeitig in der Küche das Essen vorbereiten und am Klavier sitzen und spielen?»
«Wir können doch auch einmal ohne Klavier auskommen», murrte Tante Uschi. «Oder ich spiele.»
«Ach so?», rief meine Mutter empört. «Du willst also nicht, dass ich Klavier spiele? Ist das der wahre Hintergrund?»
«Mama…», begann mein Bruder,«… die Enten. Solltest du nicht langsam in die Küche gehen?»
«Fall mir bloß nicht in den Rücken!», rief meine Mutter. «Warum will Uschi nicht, dass ich Klavier spiele?»
«Also ich bin dafür, bis zum Essen schnell die Bescherung zu machen», schaltete sich Onkel Fred ein.
«Was für ein Unsinn», sagte Oma Lilly. «Wir haben immer zuerst gegessen. Und dann war Bescherung. Und dann wurde gesungen. Und jetzt hört auf zu streiten. Weihnachten ist das Fest des Friedens und der Versöhnung.»
«Andersherum», sagte Onkel Fred. «Erst die Bescherung, dann das Essen.»
«Das ist doch unmöglich», echauffierte sich Tante Uschi. «Wir sind seit 40 Jahren verheiratet, und wir haben immer zuerst gesungen! Das ist Tradition! Was ist bloß mit dir los? Bist du schon völlig betrunken?»
«Bitte beruhigt euch», sagte meine Liebste. «Eine Tradition ist eine schöne Sache, aber wir feiern dieses Jahr alle zusammen, um…»
«Bei UNS», wiederholte Tante Uschi mit einem giftigen Seitenblick auf meine Liebste, «in UNSERER Familie war es immer Tradition! Und es gibt keinen vernünftigen Grund, das zu ändern!»
«Doch», lächelte mein Bruder und erhob sich zu voller Größe, «wir haben uns alles sehr genau überlegt, und der Ablauf, den wir uns ausgedacht haben, ist der optimale. Und jetzt machen wir weiter wie geplant.»
«Immer mit der Ruhe, wir sind doch nicht deine Studenten», tadelte mein Vater. «Wir könnten doch vielleicht wirklich schon mal singen, während ihr das Essen fertig macht.»
«Ohne Klavier?», fauchte meine Mutter.
«Warum nicht auch mal ohne Klavier?», fragte mein Vater. «Oder Uschi spielt.»
«Ich lasse diese Frau nicht an mein Klavier!», schnappte meine Mutter. «Und ich habe doch nicht wochenlang für euch Weihnachtslieder geübt, um jetzt abserviert zu werden!»
«Für die paar läppischen Liedchen musstest du üben?», feixte Tante Uschi. «Das ist ja lächerlich!»
«Schluss jetzt!», rief ich bestimmt, aber milde, wie ich es aus Fernsehserien kannte. «Ihr geht jetzt in die Küche, wir machen das Nasenspiel, und nach dem Essen machen wir mit dem Singen weiter!»
«Mit der Bescherung», wandte Oma Lilly ein. «Das war noch nie anders!»
«Jetzt wird es eben mal anders sein!», rief mein Bruder. «Mama, die Enten! Sie werden schwarz.»
«Hörst du auf, mich rumzukommandieren», rief meine Mutter und trat meiner Liebsten in den Weg, die unauffällig versuchte, um sie herum in die Küche zu gelangen. «Du hast in meiner Küche nichts zu suchen», zischte sie. «Nicht wenn diese Verwandten deines Schwiegervaters hergekommen sind, um unser Weihnachtsfest kaputt zu machen.»
«Das ist eine Unverschämtheit!», echauffierte sich Tante Uschi. «Wir wollen nichts, als in Frieden mit euch Weihnachten feiern!»
«Gut», rief ich aufspringend, «also wir spielen jetzt etwas, und gleich ist das Essen fertig!»
«Und wann gehen wir in die Kirche?», rief Oma Lilly.
«Wir könnten ja doch schnell ein paar Liedchen singen», schlug mein Vater vor.
«Papa!», sagte ich mit fester Stimme. «Wir halten uns daran, was wir ausgemacht haben!»
Der Bratengeruch, der durch die Tür kam, wirkte bereits etwas streng.
«Ich habe es befürchtet», sagte mein Vater, stand seufzend auf und holte die Gesangsbücher aus dem Regal. «Ich hatte so gehofft, dass wir diese Weihnachten ein einziges Mal in Frieden und Harmonie feiern, nur ein einziges Mal, aber ihr schafft es einfach nicht!»
«Das dauert mir hier alles zu lange. Ich fange jetzt mit der Bescherung an», kündigte Onkel Fred an, erhob sich und ging schwankend auf den Gabentisch zu.
Nun roch es eindeutig nach Verbranntem.
Meine Liebste umkreiste meine Mutter ein paarmal, um sie auszutricksen, und verschwand, als mein Vater und Tante Uschi «Stille Nacht, heilige Nacht» anstimmten, in der Küche. Meine Mutter folgte ihr, kam aber sofort wieder aus der Küche geschossen, stürzte ans Klavier und spielte mit vollem Pedaleinsatz «0 du selige».
Oma Lilli schaltete ihr Hörgerät aus und begann laut zu beten. Onkel Fred fing an, wahllos Geschenke aufzureißen. Mein Bruder verließ mit rotem Kopf und türeknallend den Raum. Der Hund sprang unterm Tisch hervor und verschwand in der Küche, und ich fing alleine mit dem Nasenspiel an, bis meine Liebste kam und sich vor Empörung schnaubend neben mich setzte.
«Warum», sagte ich zu ihr, «warum feiern wir nächstes Weihnachten nicht endlich einmal alleine? Wir können dann ganz gemütlich und in Frieden erst singen, dann essen und zum Schluss die Geschenke aufmachen.»
«Du meinst sicher erst essen, dann singen und zum Schluss die Geschenke aufmachen», lächelte meine Liebste.

 
© by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
 
Diese Geschichte stammt aus dem Buch “Aber dieses Jahr schenken wir uns nichts! Geschichten vom weihnachtlichen Wahnsinn” von Mark Spörrle.


 
 
Infos zum Buch:

  • Autor: Mark Spörrle
  • Titel: Aber dieses Jahr schenken wir uns nichts! Geschichten vom weihnachtlichen Wahnsinn
  • Verlag: Rowohlt
  • ISBN: 978-3499247200
  • Seiten: 109

Infos zum Autor:

Mark Spörrle, geboren in Flensburg, sozialisiert in München, ausgewandert via Berlin nach Hamburg, ist Redakteur und stellvertretender Chef vom Dienst bei der Wochenzeitung Die ZEIT und schreibt auf ZEIT ONLINE die satirische Kolumne „Familienglück“.
Nach dem Abitur verwarf Spörrle aufgrund massiven mathematischen Unverständnisses den Plan, Gartenbauarchitektur zu studieren und begann, für die Lok…alredaktion der Süddeutschen Zeitung zu schreiben.
Er absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München in Kombination mit dem Studiengang Diplom-Journalistik, arbeitete daneben für den damals als anspruchsvolles Privatfernsehen gegründeten Fernsehsender VOX und entwickelte Fernsehsendungen, darunter einen Formatvorläufer der satirischen Wochenschau „Samstag Nacht“. Nach Ende seines Studiums arbeitete Mark Spörrle als Autor für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und als Redakteur für die Hamburger Wochenzeitung Die Woche, bevor er zur ZEIT nach Berlin in die Redaktion Leben wechselte – und dann wieder zurück zur ZEIT nach Hamburg kam. Hier gibt es noch mehr Infos zu Mark Spörrle.