So stellte Adrienne Braun am Donnerstag abend unsere Kunstsammlung G:sichtet vor (Veröffentlichung der Rede mit freundlicher Genehmigung der Laudatorin, Quelle: Gatzanis Verlag ):
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank, dass ich heute hier sprechen darf. Ich habe mir vorgenommen, möglichst natürlich rüberzukommen. Also meiner Natur und meinem Naturell entsprechend. Ich will versuchen, mich dem Thema nicht unbedingt naturwissenschaftlich sondern möglichst natürlich zu nähern – bevor wir uns, wie man das naturgemäß zu solchem Anlass tut, nachher den Naturalien widmen.
„Der Mensch ist ein Teil der Natur und nicht etwas, das zu ihr im Widerspruch steht“, sagte der englische Philosoph Bertrand Russell. Warum aber sind wir dennoch so bemüht, allein im Sprachgebrauch stets deutlich zu markieren, dass etwas aus der Natur kommt, naturbelassen ist – und also nicht von Menschenhand manipuliert, verfremdet, gar zerstört wurde?
Es scheint in der Natur des modernen Menschen zu liegen, dass er sich als zur Natur nicht dazugehörig erlebt, als neben ihr existierend. Die Möglichkeiten, heute in natürliche Abläufe einzugreifen – ob man Regenwolken auflöst oder Pflanzen gentechnisch manipuliert -, diese Möglichkeiten haben aus psychologischer Sicht eine interessante Gemengelage hervorgerufen. Einerseits wurde Hybris geweckt, alles steuern und kontrollieren zu können. Andererseits sind diese Allmachtsfantasien von enormen Schuldgefühlen begleitet, da wir unsere schier gottgleichen Fähigkeiten keineswegs sinnvoll zu nutzen scheinen.
Die Verlegerin Jolanta Gatzanis hat sich also ein Thema vorgenommen, das größer kaum sein könnte, ein Thema, das allumfassend und weltumspannend ist: Mensch und Natur.
Ich räume es unumwunden ein: Ich bin nicht in der Lage, diese ambivalente Beziehung in eine griffige Definition zu packen, geschweige denn, theoretisch auch nur annährend präzise greifen und begreifen zu können, wo die Schnittstelle zwischen Mensch und Natur sein könnte, wo das Naturhafte des Menschen endet und dann, ja, was dann? überhaupt beginnt.
Nicole Carina Fritz schreibt in ihrem Vorwort: die Natur sei aktueller denn je. Das resultiert auch aus diesem Gefühl, nicht dazuzugehören. Wir sehnen uns nach Selbstvergessenheit, wollen dieses Gefühl der Entfremdung von unserer eigenen Natur abschütteln. Aber um zu wissen, wo ein Zugang zur Natur sein könnte, müssen wir wissen, wo wir und unser Gegenüber stehen. Bei Thomas Putze ist die Sache klar: Er baut aus Fundstücken vom Sperrmüll Tiere, die so kläglich und verrupft ausschauen, als seien sie geschreddert, als seien sie durch die Rotoren einer Windkraftanlage geschleudert oder in Erdöl getunkt worden. Ihr Lebensraum ist nicht der saftige Wald, die blühende Wiese, sondern es sind Müllhalden und Elektroschrottsammelstellen. Die Füße der Tierchen sind krumm und deformiert, der Affe hat keine Pranke, sondern eine Prothese. Der menschliche Fortschrittswille hat den Kreaturen übel zugesetzt.
Auch die grauen Falter der Schmuckdesignerin Iris Merkle wirken beschädigt, als habe sich Feinstaub auf ihre Flügel gelegt, als würden sie mit letzter Kraft durch die Rushhour am Löwentor flattern.
Sabine Koch fertigt in ihren Collagen Tiere und Menschen aus verbeulten Getränkedosen. Das scheint auf den ersten Blick gutgelaunte Recyling-Art zu sein, aber es sind doch letztlich degenerierte Wesen. Die Konsumgesellschaft ist ihnen mit ihren Glück verheißenden Produkten förmlich in den Leib hineingewachsen.
Eindeutig: der Mensch ist hier der Feind der Natur. Aber ist es vielleicht doch nur der gewöhnliche Kampf der Kreaturen untereinander? Das Fressen und gefressen werden? So, wie sich die Wespen auf der Fotografie von Lisa Correa über Ananas und Melone hermachen – und man schreien will: Halt, das ist unser Obst! Jeder muss im Überlebenskampf schließlich nach sich selbst schauen.
„Du hast hier nichts zu suchen“; sagt in der Erzählung von Matthias Grabow denn auch eine mannshohe Nessel zu dem Menschen, der sich durchs Gestrüpp schlägt und mit einem Ast die Brennnesseln niedermäht. „Wir waren zuerst hier, es ist unser Feld.“
Sicher ist: Die Natur ist nicht minder egoistisch wie unsereiner – so kann man es auch bei Vincent Klink nachlesen, der von einem Gänserich erzählt, der Klinks Schinkenbrot aus dem Fahrradkorb stielt – aber den anderen Gänsen nichts abgeben mag.
Verhält sich der Mensch also womöglich natürlicher als wir glauben mögen? Welche Rolle spielt er im System? Die Antworten der Künstlerinnen und Künstler als auch der Autoren fallen höchst unterschiedlich aus: Bei Anette Mürdter ist der Mensch nicht mehr als ein mutiertes Pferd. In ihre Skulpturen erfährt die Physiognomie eine Metamorphose und wandelt sich schrittweise vom menschlichen Gesicht zur Tierschnauze und vice versa. Sie machen sozusagen die Phylogenese, die Entwicklung der Lebewesen ironisch sichtbar.
Bei Friederike Groß ist die Natur zum Gegenüber entrückt: Auf ihrem Triptychon geht man ins Grüne wie in eine Theatervorstellung, betrachtet es als etwas Exotisches – und wenn das Publikum genug gesehen hat, macht es sich aus dem Staub und hinterlässt seine Spuren, seinen Abfall.
Bei Anna Breitenbach ist die Natur letztlich nur eine Option im ewigen Streben nach Wohlbefinden. Sie schreibt in ihrem Gedicht „Grünstreifen“: „Den Weg am Wald und Wiesenrand lauf ich am liebsten da scheint die Sonne mir am grünsten!“
Immer schon haben sich Künstlerinnen und Künstler an der Natur abgearbeitet – und auch der größte Teil der Beiträge dieses Buches nähert sich dem Phänomen aus ästhetischer Sicht. Man könnte sagen: Hier soll das Wesen der Natur durch Anschauung begreifbar gemacht werden:
Michaela Kern malt Vegetationszonen, Wiesen mit Horizont, Nadelbäume, Ahornblätter. Aber auch die an sich abstrakte Malerei von Isa Dahl wird gespeist aus floralen Elementen, aus Gräsern und Halmen.
Auch Fotografen richten den Fokus auf das, was wir Natur nennen. Petra Steidel Wokeck nimmt Pflanzen mit scharfem, fast sezierendem Blick ins Visier – brillant und erschreckend schön sind ihre Fotografien. Während die Landschaften von Maks Dannecker künstlich wirken, unwirklich und visionär, als könne der Fotograf selbst nicht recht glauben, dass diese Pflanzen real sein könnten. Aber doch, sie sind es.
Die Techniken und Herangehensweisen sind vielfältig und reichen von abstrakten Kompositionen aus Stein und Bambusstecken bis hin zur Dekoration wie bei Michael Diehl, für dessen Fotografie das Gesicht einer Frau mit Pflanzen geschmückt wurde, quasi mit Blättern geschminkt.
Einige dieser künstlerischen Arbeiten sind aber auch eine Art Selbstbefragung, eine Recherche, wie das Individuelle und das endlose Stirb und Werde ineinandergreifen. Denn ist unsere Physiognomie nicht einmalig und einzigartig – wie Wolf Nkole Helzle in seinen Fotografien fragt. Und doch zeigt seine Reihung von individuellen Porträts, dass jeder von uns letztlich nicht mehr ist als eine Fußnote im unendlichen Weltenlauf. Auf den Fotografien von Frank und Steff ist das Ich sogar geklont, es ist ein ganz Chor des immer gleichen Einzelstücks.
Auf den Gemälden von Hanjo Schmidt sind wir nur noch ein Bündel Fleisch. Auch wenn seine Modelle prominente Schauspieler sein mögen, die sich in Pose bringen, sich originell biegen und beugen, letztlich sind auch sie nichts als nackter Leib, animierte Materie.
Vielleicht sind wir also doch nur austauschbare Kreaturen, die, wenn man den Gemälden von Thomas Heger folgt, irgendwann eine weitere Sedimentschicht bilden werden, nicht mehr als Asche, Staub, Humus sind für die folgenden Generationen.
So endet es mit uns. Ob entfremdet oder nicht, über kurz oder lang kehren wir alle zurpck in den Schoß von Mutter Natur – was uns so auch wieder nicht recht ist. Die Fotografien von Franziska Molina und Barbara Rolf appellieren aber daran, dennoch Gelassenheit zu üben. Ihre Dokumentation aus dem Leichenschauhaus hat bei aller Kälte etwas Tröstliches und vermittelt, dass wir ganz leise und friedlich in die Natur werden zurückkehren können.
Bis es soweit ist, bleibt nur das Ringen um Erkenntnis, bleibt der tägliche Kampf und das Dilemma des vernunftbegabten Menschen, sich als Teil der Natur doch nicht zugehörig zu erleben. Das Buch liefert keine Antworten, aber Anregungen. Die künstlerischen und literarischen Beiträge, die Cartoons und abstrakten Kompositionen, die dokumentarische und inszenierte Fotografie helfen uns bei der eigenen Verortung, indem sie die vielfältigen Aspekte dieses existenziellen Themas beleuchten. Natürlich werfen sie auch die zentrale, moralische Frage auf: nach unserer Verantwortung für die Natur.
Denn die Natur ist verletzlich – wie die fragilen Papierobjekte von Simone Leister. Wenn wir sie weiter zerstören, kann sich das bitter rächen. „Wo bleibt die Kraft zur Veränderung wo der Vollzug“ fragt Thom Eblen in einem Gedicht – denn sollten wir nicht dringend unseren rücksichtslosen Feldzug gegen die Natur beenden?
Aber letztlich ist die Natur vielleicht doch zäher, als wir es ihr zutrauen. Die tragischen Kreaturen von Thomas Putze scheinen trotz aller Widrigkeiten einen stoischen Überlebenswillen zu besitzen. Sie lehren uns Pragmatismus und vielleicht auch etwas Gelassenheit – indem sie uns zeigen, dass man in der Not auch aus einem Klostampfer ein Stück Heimat zimmern kann.
Adrienne Braun
freie Publizistin