ADHS ist gesellschaftliche Aufgabe

Von Nicsbloghaus @_nbh

Als es kurz nach dem Ableben des ame­ri­ka­ni­schen Psychiaters Leon Eisenberg in den Medien hieß, dass das “Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätssyndrom” (ADHS) "eine erfun­dene Krankheit" sei, erregte das viel Aufmerksamkeit. War es doch eben die­ser Eisenberg, der darum kämpfte, das Krankheitsbild ADHS in das DSM, das wich­tigste Handbuch der Psychologie, auf­zu­neh­men.

Solche Nachrichten ver­füh­ren sehr schnell dazu, zu rufen: “das habe ich schon immer gewusst!” Allerdings ist das nicht  ganz so ein­fach. Weder hat Leon Eisenberg das Krankheitsbild ADHS gene­rell in Frage gestellt, noch haben die laut­star­ken Kritiker Recht, die in der häu­fig attes­tier­ten Krankheit allein eine Erfindung der Pharmakonzerne sehen wol­len.

Richtig ist, dass der Kinderpsychiater dem Spiegel-Journalisten Jörg Blech kurz vor sei­nem Tode ein Interview gab, in dem er sich von eini­gen sei­ner Thesen dis­tan­zierte. Dazu gehört auch die, dass ADHS eine gene­tisch bedingte Krankheit sei. Er nannte ADHS "ein Paradebeispiel für eine fabri­zierte Erkrankung" – aber vor allem des­halb, weil unter die­sem Begriff alles sub­su­miert wer­den kann, womit sich weder Eltern noch Gesellschaft abge­ben möch­ten.

Deshalb for­dert er Kinderpsychiater auf, sich gründ­li­cher mit den psy­cho­so­zia­len Gründen zu befas­sen, die zu Verhaltensauffälligkeiten füh­ren kön­nen. Der Mühe die­ser Arbeit mit den jun­gen Patienten und deren Umfeld unter­zie­hen sich Psychiater jedoch viel zu sel­ten. Dabei sind sol­che Fragen wich­tig, sie näh­men jedoch viel Zeit in Anspruch und so kon­sta­tiert er: “Eine Pille ver­schreibt sich dage­gen ganz schnell.”

Aus die­sen weni­gen Sätzen in einem Spiegel-Artikel kon­stru­ier­ten dann andere Medien und vor allem Blogger und Webseitenbetreiber die steile These, dass es die auch als “Zappelphilipp-Syndrom” bezeich­nete psy­chi­sche Störung nicht gibt. Erstaunlich oft han­delt es sich dabei um Webseiten und Blogs, in denen von selt­sa­men Verschwörungstheorien gere­det wird. Deshalb wurde es tat­säch­lich schwer, sich im Internet über das Für und Wider zu ADHS zu infor­mie­ren.

Recherche kaum mög­lich

Bei der Recherche stol­pert man sogar über Wissenschaftsblogger (und Impfgegner), die ADHS für eine gene­tisch bedingte Krankheit hal­ten – und for­der­ten, “den mög­li­chen Einfluss der Impfungen im Babyalter unvor­ein­ge­nom­men zu unter­su­chen. Konkret geht es dabei um die Aluminiumsalze, die in zwei Drittel der der­zei­ti­gen Kinderimpfungen als Hilfsstoffe ent­hal­ten sind.” (In die­sem Falle muss aber nach­ge­tra­gen wer­den, dass der Blog unter ande­rem auch wegen sol­cher Veröffentlichungen geschlos­sen wurde.

Über diese Schwierigkeiten und den Umgang der Medien mit dem Thema hat Joseph Kuhn bereits im Februar die­ses Jahres geschrie­ben: “Über ADHS kann man prima strei­ten. Man hat gene­ti­sche Dispositionen und Besonderheiten der Hirnfunktionen nach­ge­wie­sen, aber so etwas muss für sich genom­men noch kein kli­ni­sches Krankheitsbild nach sich zie­hen, es kommt auf das Zusammenspiel mit der Umwelt an. Hyperaktive Kinder haben mehr Probleme, wenn die Schule ihren Bewegungsdrang ein­schränkt. Kein Zufall also, dass die Diagnoseraten mit der Einschulung zuneh­men. So hat man hier ein tol­les Anwendungsgebiet für die alte Anlage-Umwelt-Diskussion.”

Die Deutsche Apothekerzeitung schreibt: “Vor 20 Jahren wur­den in Deutschland 34 Kilo Methylphenidat ärzt­lich ver­ord­net – heute sind es 1,8 Tonnen.” Unter Bezugnahme auf Recherchen des ZDF-Magazins “Frontal 21″ heißt es an ande­rer Stelle: “Fast 700.000 Kinder in Deutschland leben mit der Diagnose ADHS, circa die Hälfte von ihnen wird mit Medikamenten wie Ritalin behan­delt.” Die Webseite der Tagesschau spricht sogar von rund 750.000 Menschen, bei denen im Jahr 2011 die Diagnose ADHS gestellt wurde.

Eine kaum bekannte Tatsache ist, dass es auch junge Erwachsene gibt, die mit Ritalin the­ra­piert wer­den und dass die­ses Mittel auf Dauer nicht zu unter­schät­zende Nebenwirkungen haben kann.

Neues Herangehen gefor­dert

Nun wird kaum ein Unternehmen von sich aus auf die Gewinne ver­zich­ten, die mit dem Verkauf des ADHS-Medikamentes Ritalin (Methylphenidat) gemacht wer­den. Selbst wenn sich bei die­sem Stoff um ein Amphetamin han­delt; einen Stoff, der auch als Droge bezeich­net wer­den kann.

Der Ansatz muss also ein ande­rer sein, denn Ritalin bekämpft die Auswirkungen der dia­gnos­ti­zier­ten Krankheit, ändert jedoch nichts an ihren Auslösern. Hinzu kommt, dass nach Ansicht von Ulrike Lehmkuhl, der Direktorin der Kinderklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité, 90 Prozent der ADHS-Diagnosen als falsch sind. “Neun von zehn Kindern, die zu ihr mit angeb­li­chem ADHS kom­men, seien ver­hal­tens­ge­stört oder psy­chisch erkrankt.”

Der Ansatz muss also in einer ver­bes­ser­ten Diagnostik und ande­ren Therapieformen beste­hen. Darauf wird von Fachärzten auch immer wie­der ver­wie­sen. Der lei­der früh ver­stor­bene Peter Riedesser nannte ADHS zu Recht “eine der größ­ten Kontroversen in der Geschichte des Fachgebiets Kinder- und Jugendpsychiatrie” und enga­giert sich für eine bes­sere Aufklärung über diese Krankheit. In einer Konsenserklärung for­dern er und andere Fachleute einen ande­ren, einen evi­denz­ba­sier­ten Umgang mit dem Thema.

Ein Buch zum Thema

Der Philosoph Christoph Türcke hat eine Streitschrift; eine “Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur” geschrie­ben. “Hyperaktiv!” heißt das kleine Buch, das in der Beck’schen Reihe erschie­nen ist.

Türcke geht davon aus, dass die Menschen heute, zumal die jun­gen, unter Dauerstress ste­hen. Er nennt es “Bildschock”; denn auf die Menschen pras­seln unun­ter­bro­chen und fast ohne Pause Informationen ein. Viel mehr, als das mensch­li­che Gehirn in der Lage ist, zu ver­ar­bei­ten.

Er begrün­det das auch ent­wick­lungs­ge­schicht­lich und evo­lu­tio­när. Der Mensch hat Jahrtausende benö­tigt, um sich zu dem zu ent­wi­ckeln, was er heute ist. Und seine Sinne hiel­ten bis­her ganz gut mit die­ser Entwicklung Schritt. Heute jedoch, so Türcke, sind wir an einem Scheidepunkt: die Menschheit hat sich – zuerst durch Filme, spä­ter dann durch das Fernsehen selbst dazu gebracht, sich unun­ter­bro­chen mit opti­schen Reizen zu über­flu­ten.

Ausgehend von einem teil­weise extre­men Fernsehkonsum schreibt er “Das Problem ist dabei nicht ‘das Fernsehen’, son­dern seine Dosierung. In gerin­gen Dosen ist es völ­lig unschäd­lich. Von einer bestimm­ten Höhe an über­nimmt es hin­ge­gen das Aufmerksamkeitsregime. Dessen Wirkung ist aber nir­gends pre­kä­rer als an der Klippe der “Neunmonatsrevolution“, wo sich die Aufmerksamkeitsgemeinschaft, die nur der homo sapi­ens kennt, in der zar­tes­ten, emp­find­lichs­ten, insta­bils­ten Phase ihres Entstehens befindet.”(S. 66)

Und dabei geht Türcke in sei­nem Buch so gut wie nicht auf die Potenzierung genau die­ser Dosierungen aus, die durch die ver­mehrte Nutzung von Mobiltelefonen und ins­be­son­dere Smartphones pas­siert.

Allerdings spricht auch Türcke davon, dass es sich bei ADHS um eine “echte” Krankheit han­dele. Er weist jedoch dar­auf hin, dass “die miss­bräuch­li­che Ausweitung des Etiketts ADHS nach zwei Seiten, einer­seits auf Bagatellfälle, ande­rer­seits auf Krankheitsfälle, für die andere Diagnosen zustän­dig sind” (S. 39) für die Gesundheit der Betroffenen gefähr­lich sein kann. Denn “wo ein paar kleine und ebenso kon­se­quent wie teil­nahms­voll durch­ge­hal­tene Regelsetzungen voll­auf genügt hät­ten, das Verhalten des Sprösslings ein­zu­däm­men, wur­den lang­wie­rige Psychotherapien anbe­raumt und Psychopharmaka ver­ab­reicht.” Die jedoch – so seine Auffassung – häu­fig genug nicht das Problem an sei­ner Wurzel packen son­dern nur dazu die­nen, die Auswirkungen zu bekämp­fen. Man ver­mag mit die­ser Art “Therapie” nicht, die Symptome zu hei­len. Denn dazu würde es Heerscharen an Therapeuten, Sozialarbeitern und ande­rer aus­ge­bil­de­ter Fachleute bedür­fen.

Nun wäre das Buch aber nur zur Hälfte so inter­es­sant, wie es ist, wenn er nicht auch eine Möglichkeit auf­zei­gen würde, die­ser Zivilisationskrankheit abzu­hel­fen. Ob man sei­ner Idee fol­gen mag, muss jeder dann aller­dings für sich selbst her­aus­fin­den.

Die “Ritualkunde”

Tücke geht – wie gesagt – davon aus, dass es vor allem die bild­ge­ben­den Medien sind, die die Kinder krank machen: “Bildmaschinen üben zwar auf alle Kinder Sogwirkung aus, aber nicht alle sind gleich anfäl­lig dafür. Besonders wehr­los dage­gen sind Kinder, die, längst ehe sie ver­ste­hen konn­ten, was sich auf Bildschirmen abspielt, die Kraft ihres Flimmerns als ele­men­ta­ren Aufmerksamkeitsentzug zu spü­ren bekom­men haben. Dieser Entzug ver­langt nach Wiederholung, um bewäl­tigt zu wer­den. Er sucht sein Verlangen dort zu stil­len, wo es ent­stand. Und so suchen diese Kinder gerade bei den Maschinen Ruhe, die sie auf dif­fuse Weise, noch prä­ob­jek­tal, gewis­ser­ma­ßen spuk­haft, und den­noch prä­gend als Stifter ihrer Unruhe erlebt haben. Das ist die Logik des trau­ma­ti­schen Wiederholungszwang: ‘Vor dem mir graut, zu dem michs drängt.’” (S. 86)

Die Aufmerksamkeit erre­gen diese “Bildmaschinen” dadurch, dass sie ver­su­chen, etwas zu erset­zen, dass in der heu­ti­gen Zeit ziem­lich ver­lo­ren ging: Zum Beispiel das Vorlesen eines Buches. “Erst durch Aufmerksamkeit lernt man men­schen­spe­zi­fi­sche Gemeinschaft. Zwar sucht der Säugling vom ers­ten Tag an Gemeinschaft, wenn er die Wärme und die Brust der Mutter sucht. Aber diese Art von Gemeinschaft suchen alle Säugetiere. Spezifisch mensch­lich wird Gemeinschaft jedoch erst, wenn ein Drittes sie stif­tet. Menschliche, nicht bloß psysisch-emotionale Nähe zwi­schen Eltern und Kind erfor­dert, dass sie sich gemein­sam auf etwas rich­ten, was sie gemein­sam fes­selt. Deshalb ist das gemein­same Anschauen von Bilderbüchern, das gedul­dige wie­der­holte Benennen von Gegenständen, das Vorsprechen oder Vorlesen von Texten für Kleinkinder so unschätz­bar wich­tig. Es han­delt sich hier­bei um nichts Geringeres als Initiationsriten, die die Kinder in einer spe­zi­fi­sche­ren Weise in die mensch­li­che Gemeinschaft auf­neh­men als die Geburt.” (S. 65 – Hervorhebung von mir, Nic)

Diese Rituale inter­es­sie­ren Türcke – er nennt sie auch “geron­nene und kodi­fi­zierte Wiederholungen”. Und von die­sem Gedanken aus­ge­hend plä­diert er für die Einführung eines Unterrichtsfaches “Ritualkunde”.

“Was hier Ritualkunde genannt wird, begänne am bes­ten schon im Kindergarten und ist dar­auf ange­legt, die Schüler von der Einschulung bis zum Abitur zu beglei­ten. Allerdings in ver­schie­de­ner Konsistenz und Dosierung.”(S. 87) Diese Idee führt er recht aus­führ­lich im Buch aus und teilt mit, dass er sich in dem Fach “den Zusammenschluss von Sozialkunde und Religion/Ethik” vor­stellt – mit der vol­len Stundenzahl der bei­den Fächer zusam­men­ge­nom­men.

Allerdings zeigt sich hier – wenn man genauer hin­schaut, dann lei­der doch, dass Christoph Türcke einen reli­giö­sen Hintergrund hat. Denn wenn er schreibt: Ritualkunde “wäre fer­ner ein kon­fes­si­ons­neu­tra­les Fach – und gleich­wohl den kon­fes­sio­nel­len Anliegen der Religionsgemeinschaften um eini­ges näher als jeg­li­cher sepa­ra­ter Werteunterricht für Nichtgläubige. Denn Ritualkunde stellt schon von ihrem Ansatz her die abs­trakte Trennung von sakral und pro­fan grund­sätz­lich in Frage” (S. 112), dann klingt das eben nicht kon­fes­si­ons­neu­tral. Denn er wer­tet einen nicht­re­liö­sen Werteunterricht – wie es zum Beispiel das Fach “Lebenskunde” ist – in einem Halbsatz ab. Ohne sich an irgend einer Stelle des Buches genauer mit des­sen Inhalten und Anliegen zu befas­sen.

Auch wenn er schreibt: “Inszenieren Juwelierläden und Boutiquen ihre Schaufenster nicht wie Sakralräume, die Schmuckstücke wie Reliquien, die Schals wie Altartücher?” dann kann ich nicht anders als zu fra­gen, ob das nicht viel­leicht eher umge­kehrt rich­ti­ger wäre.

Doch abge­se­hen von die­sem zum Ende des Buches hin deut­li­cher reli­giö­sen Touch ist die Idee eines Unterrichtes, in denen Kinder (und Erwachsene) ler­nen, wie­der mehr auf sich selbst zu hören; sich selbst zu ver­trauen und es auch mal mit sich selbst in Langeweile aus­zu­hal­ten, über­den­kens­wert.

Wenn man Türcke folgt, dann ist ADHS weni­ger ein Gesundheitsproblem als viel­mehr ein gesell­schaft­li­ches. Und damit ein selbst­ge­mach­tes. Und das kön­nen nur wir selbst ändern.

Nic

Christoph Türcke – Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur , Beck 2012, ISBN: 3406630448, 9,95 Euro

[Erstveröffentlichung: hpd]

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