Adé, Herrschaft des Volkes – Willkommen im Polizeistaat. Teil 2.

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Eintrag schreiben soll oder nicht; ich hege große Zweifel daran, dass es mir gelingt, all jenes in Worte zu fassen, was in den letzten Tagen in Russland passiert ist; und ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was ich derzeit erlebe, richtig und der Wahrheit entsprechend vermitteln kann. Aber gut.

Nach dem ersten Teil nun eine kleine Wende hin zum Realen – ein kleiner Schwenk in Richtung russischer Wirklichkeit, unter dessen Einwirkung ich jenen Eintrag schrieb. Die Chancen stehen gut, dass die heutigen Zeilen nüchterner und bedachter ausfallen, als jene vor drei Tagen. Dennoch: an der Grundaussage des vorhergehenden Textes ändert sich nichts.

Vor drei Tagen fühlte ich zum ersten Mal, was es heißt, machtlos der Macht gegenüberzustehen. Für den Samstag, 9. Juni, war in Voronezh eine Protestkundgebung anberaumt; die Stadtregierung allerdings verwehrte den Organisatoren die Genehmigung. Der offizielle Grund: Noch eine Veranstaltung neben dem momentan laufenden Platonov-Festival wäre einfach zu viel des Guten. Man soll die Voronezhzer ja nicht überfordern.

Darauf entschieden die Organisatoren, die Protestkundgebung nicht als Demonstration, sondern als “guljan’e”, als “Spaziergang”, durchzuführen. Ich ging hin – und zwar nicht, um direkt teilzunehmen, sondern um zu beobachten. Außer einer dezent am Rucksackriemen befestigten weißen Schleife aus Serviettenpapier wies auch nichts darauf hin, dass ich mit den Protestierenden sympathisiere.

Das Bild, das sich mir bot, war surreal. Auf dem Platz hatten sich schon einige Dutzend Menschen eingefunden, es wurden weiße Schleifen und weiße Luftballons verteilt. Gleichzeitig, so schien es, sei der Stadtverwaltung kurzfristig in den Sinn gekommen, in der Mittagshitze noch die Blumenbeete bewässern und den Platz einem gründlichen Frühjahrsputz unterziehen zu müssen. So drehte ein zu einer Kehrmaschine umfunktionierter Traktor unermüdlich seine Runden und näherte sich regelmäßig und so gar nicht subtil den anwesenden Demonstranten, um ihnen den Dreck direkt vor die Füße zu kehren. Im Übrigen war es äußerst interessant, den Bewässerungsvorgang zu beobachten: In hohem Bogen schoss das Wasser aus dem Schlauch des Tankwagens, sodass höchstens die Hälfte des Wassers in den Blumenbeeten landete, ein Großteil allerdings die Demonstranten “erfrischte”. Parallelen zu Wasserwerfern? Wohl rein zufällig. Aber wie nett, dass sich die Stadt um das Wohl ihrer Bürger sorgt, dachte ich mir. Dem nicht genug, rückte darauf noch eine Armada älterer Frauen aus, um die durch die sehr innovative Form der Bewässerung entstandenen Pfützen in Richtung der spärlich vorhandenen Gullys zu kehren; diese befanden sich – ja, richtig erraten – inmitten der sich versammelnden Teilnehmer. Es war ein schönes Gefühl, mitten im Dreckwasser zu stehen.

Mir war unheimlich. Es war die im Verhältnis zu den Teilnehmern große Anzahl an Polizisten, die dieses Gefühl hervorrief – vor allem aber die anwesenden Einsatzkräfte der Spezialeinheit “Extremismus” (deshalb auch “Eshniki” genannt), die alles beobachteten, filmten und fotografierten. Als sich dann die Demonstranten in Bewegung setzten, um, wohlgemerkt schweigend, keine Parolen skandierend und ohne Plakate, über den zentralen “prospekt Revoljucij” (Prospekt der Revolution) zu spazieren, mischten sich Polizisten wie “Eshniki” unter die Menge. Und ich entschied mich, die Straßenseite zu wechseln und mit regelmäßigen Blicken über die Schulter nach hinten schnurstracks ins Büro zu gehen. Es war, wie sich später herausstellte, die richtige Entscheidung. Es wurden zwar keine Teilnehmer festgenommen, einige “Eshniki” aber sprachen mehr oder weniger klar Drohungen gegenüber den Demonstranten aus. Der Druck, den die Macht auf das Volk ausübt, war die ganze Zeit über spürbar. Und machte mir zum ersten Mal richtig bewusst, wie schlecht es um die Freiheit in diesem Land steht.

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Heute aber ist ein Feiertag. Den’ Rossii. Der Tag Russlands. Ein Teil des Volkes freut sich darüber, nicht arbeiten zu müssen und schwankt, beseelt von zahlreichen erfrischenden Getränken, durch die Straßen der Stadt. Ein anderer Teil allerdings nahm den Feiertag zum Anlass, in der russischen Hauptstadt an der zweiten Auflage des “Marsches der Millionen” – einer Demonstration gegen unfaire Wahlen und das herrschende System. Um es kurz zu fassen: von Seiten der Macht wurde nichts unversucht gelassen, die Veranstaltung zu verhindern oder zumindest erheblich zu erschweren. Zuerst das lange Tauziehen um die Genehmigung; dann die Versuche des FSB, potentielle Teilnehmer aus den Provinzen daran zu hindern, nach Moskau zu gelangen; gestern die Razzien in den Wohnungen verschiedener leitender Oppositioneller; heute deren Vernehmung, genau zum Zeitpunkt des Marsches; und zu guter Letzt Cyber-Angriffe auf renommierte unabhängige Medien wie auf die Zeitung “Novaja Gazeta”, den Radiosender “Echo Moskvy” und den TV-Sender “Dozhd’” – zeitweise waren sowohl die Internetseiten aller drei Medien, als auch die Live-Übertragungen, nicht mehr zu öffnen. Ablenkung boten die staatlichen Fernsehsender: kein Wort über die Demonstration, dafür aber eine Live-Übertragung des Anschnitts der größten Kirschtorte der Welt. Gratulation, genau so schützt man das Volk vor “radikalen Kräften”.

Die Zeichen auf eine Mäßigung dieser Gangart von Seiten der Politik stehen schlecht. Und dieser Umstand bereitet mir Sorgen. Wie dies alles enden soll, weiß ich nicht. Ich hoffe, im Guten. Die Chancen dafür stehen meiner Meinung nach aber schlecht.



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