Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Eintrag schreiben soll oder nicht; ich hege große Zweifel daran, dass es mir gelingt, all jenes in Worte zu fassen, was in den letzten Tagen in Russland passiert ist; und ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was ich derzeit erlebe, richtig und der Wahrheit entsprechend vermitteln kann. Aber gut.
Die Demokratie in Russland ist nun endgültig Geschichte. Es gibt sie praktisch nicht mehr. Wurden in der Vergangenheit die Verfassung und die elementarsten Menschenrechte durch die Macht einigermaßen subtil und leise umgangen, holte die Duma (Erste Kammer des Parlaments) am 5. Juni zu einem Rundumschlag aus: nach einem 12-stündigen Abstimmungsmarathon wurde, trotz Obstruktion (chapeau!) der sonst eher handzahmen Opposition (von ihr selbst treffend als “italienischer Streik” bezeichnet), ein Gesetzentwurf beschlossen, der darauf abzielt, die Versammlungsfreiheit massiv einzuschränken. Am Tag darauf winkte der Föderationsrat (Zweite Kammer des Parlaments) den Entwurf innerhalb einer Stunde eilig durch und legte ihn sodann dem Präsidenten der Russischen Föderation, Vladimir Putin, zur Unterzeichnung (oder, rein hypothetisch, zur Nicht-Unterzeichnung) vor. Einige Experten äußerten sogar die Hoffnung, Putin könnte den Entwurf ablehnen, um – salopp ausgedrückt – guten Willen zu zeigen und sich einen demokratischen, volksnahen Anstrich zu verpassen. Dem war allerdings nicht so. Der Präsident setzte gestern seine Unterschrift unter den Gesetzentwurf, die Regierungszeitung “Rossijskaja Gazeta” veröffentlichte ihn heute. Damit trat ein Gesetz in Kraft, das absurd, menschenverachtend und repressiv ist.
Um aber auch die positive Seite der Medaille aufzuzeigen, möchte ich hiermit der russischen Regierung herzlich gratulieren (und ich hoffe, dass der Geheimdienst FSB diese Zeilen mitliest): wohl selten zuvor wurde ein Gesetz, das übrigens “das Volk vor radikalen Kräften schützen soll”, so schnell verabschiedet. Hut ab. Und das just vor den für den 12. Juni anberaumten zweiten “Marsch der Millionen” in Moskau. Da soll mir noch einmal jemand sagen, die Politik sei träge und unfähig, Entscheidungen zu treffen. Und das beste am druckfrischen Gesetz: es “schützt” nicht nur das Volk, sondern vernichtet auch jenes Element, das die ansonsten passiv und geduldig vor sich hindösenden Russen wachgerüttelt hat – den Protest gegen die Politik. Ein Hoch auf die wieder einkehrende Ruhe und Stabilität!
Oder doch nicht? Ich hege große Zweifel daran, dass sich viele Protestierende von der neuen Verordnung davon abbringen lassen, ihrem Unmut weiter Luft zu machen – und das trotz der für hiesige Verhältnisse drakonischen Strafen. So sieht das Gesetz für die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen (Genehmigungen sind eine seltene Ausnahme, Anm.) oder für einen Gesetzverstoß Höchststrafen von 300.000 Rubel (ca. 7500 Euro) oder 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit für Privatpersonen und gar eine Million Rubel (ca. 25.000 Euro) für Organisationen vor. Die “Verstöße” können dabei getrost als wahnwitzig bezeichnet werden: das Zertrampeln von Rasenflächen, die Behinderung des Straßenverkehrs, das Tragen von Base-Caps oder Sonnenbrillen, die Ausgabe von Essen, laute Parolen oder die bloße Ankündigung, an einer Demonstration teilnehmen zu wollen. Diese Liste ließe sich aufgrund der unpräzisen Formulierung der Verstöße und des damit einhergehenden großen Interpretationsspielraums noch weiter fortsetzen.
Um es auf den Punkt zu bringen, trat heute ein Gesetz in Kraft, das nicht nur Proteste und Demonstrationen jeglicher Art in Zukunft praktisch unmöglich macht – mehr noch: es kriminalisiert pauschal größere Menschenansammlungen, die einem gemeinsamen Anliegen folgen. Darunter fiele theoretisch, um ein Beispiel zu nennen, auch der Protest von Bewohnern eines Miethauses, denen tagelang und ohne Ankündigung das Wasser abgestellt wird. Oder aber eine Hochzeitsgesellschaft, die lärmend und grünflächenzertrampelnd durch irgendeine russische Innenstadt zieht. Nochmals vielen Dank dem Kreml, dass er sich so rührend für die Ruhe seiner Bürger einsetzt. Und dabei sogar in Kauf nimmt, ein an sich verfassungswidriges Gesetz zu verabschieden. Hut ab, zum Zweiten.
Kleine Wende, hin zum Realen: (Fortsetzung folgt).