Action und Kontemplation

„Hinoki“ und „Wall Dancing“, zwei Produktionen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zeigen, wie breit gefächert das Spektrum des Programms des Impuls Tanz Festivals 2015 ist. Der Ungar Máté Mészáros und die Inderin Padmini Chettur vertreten Ansätze, die verdeutlichen, wie sehr der eigene kulturelle Hintergrund den jeweiligen Ausdruck formt.

Máté Mészáros gibt richtig Gas

Im Rahmen von 8:tension, dem Nachwuchswettbewerb für junge Choreografinnen und Choreografen, zeigte Mészáros, eine Arbeit, in der der Einfluss von Ultima Vez zu spüren ist. Jener Truppe mit Vim Vandekeybus an der Spitze, in der der Tänzer in den letzten 10 Jahren eine Heimat fand. Die vorliegende Arbeit gestaltete er mit einem Ensemble, das sich hier in dieser Konstellation zum ersten Mal zusammenfand. Umso erstaunlicher, wie homogen die rasante Choreografie von allen auf die Bühne gebracht wurde. „Sterblichkeit, Zerstörung, Wiederaufbau“ – mit diesen Begriffen wird der Programmtext eingeleitet. Und tatsächlich ist viel davon in den 45 Minuten sichtbar. Áron Porleki agiert während der Tanzsession mit seinen Percussion-Instrumenten und mit ein wenig Elektronik sichtbar am linken, vorderen Bühnenrand. Von seinem Timing und seiner Genauigkeit hängt viel ab. Denn die Choreografie von Mészáros ist über lange Strecken hin auf Sekundenbruchteile genau ausgerichtet. In der 5-köpfigen Gruppe, in der der Choreograf auch selbst mittanzt, agiert in vielen Szenen jeder gegen jeden und gegen jede. Viktória Dányi, Nóra Horváth, Péter Juhász und Dávid Mikó können dabei trotz der strikten Choreografie ihre eigenen tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten präsentieren.

Da wird gelaufen, gesprungen, gezerrt, hingefallen und wieder aufgestanden, kommen komplizierte Hebefiguren zum Einsatz. Es ist ein Treiben und Getriebenwerden auf der Bühne, dass einem oft der Atem stockt. Brutale Momente, in welchen die Gruppe gegen die allerkleinste Tänzerin losgeht und sie permanent attackiert, wechseln mit solchen ab, die von Empathie und Heilung erzählen. Dann, wenn Gefallene oder Gestrauchelte von ihren Kolleginnen und Kollegen mit sanften Hilfestellungen für Kopf und Nacken langsam wieder vom Boden auf die Beine gebracht werden. Der grüne Hügel, der zu Beginn die Begrenzung der rechten Seite der Bühne markierte, verwandelt sich durch eine geschickte Beleuchtung später in ein Kohle- oder Aschenfeld, das von den Tanzenden im Laufe der Vorstellung über den ganzen Boden verteilt wird.

Paare finden sich, selten einander wirklich zugeneigt, sondern meist bemüht, das eigene Ego weiter zu behaupten. Männer provozieren sich gegenseitig so lange, bis es zu Handgreiflichkeiten kommt. Geschlagene werden leblos über den Boden gezogen und wie Treibgut unachtsam abgelegt. Der Mensch lebt bei Mészáros, aber er hat keinen wirklichen Wert. Individualität wird zwar hochgehalten, steht aber einem gemeinsamen Ganzen permanent im Weg. Die Kultur der Selbstverwirklichung wird hier auf jene unerfreuliche Spitze getrieben, die Vereinsamung bedeutet.

Trotz aller Brutalität und trotz des enorm hohen Tempos gibt es auch poetische Momente voller getanzter Schönheit. Während einer leisen Sounduntermalung, für die Portieki zur E-Gitarre greift, zeigen die Protagonistinnen und Protagonisten eine Bodenchoreografie, in der alle nacheinander die Bewegungsmuster aufnehmen, sie weiterspinnen, übergreifen lassen auf andere Zweier-Gruppen oder auch kontrapunktisch dagegenhalten. Das ist zeitgenössischer Tanz, den man nie satt wird zu sehen und von dem man sich immer noch mehr wünscht. Máté Mészáros hinterlässt damit den Eindruck, eine komplexe Choreografie auf die Beine stellen zu können, die höchsten technischen und ästhetischen Ansprüchen gerecht wird. Die dahinterliegende Aussage schmilzt ob der so kunstvollen und auch akrobatischen Bewegungsmuster auf jenes Minimum, das notwendig ist, die Form auch mit Inhalt auszustatten.

Padmini Chettur hebelt die Zeit aus

Padmini Chettur hingegen verfolgt mit „Wall Dancing“ eine gänzlich andere Idee. Die dreistündige Aufführung im Weltmuseum, die durch drei hintereinanderliegende Räume im Parterre des derzeit leeren Hauses geführt wird, ist zwar für die vier Tänzerinnen und ihren einzigen männlichen Kollegen nicht weniger anstrengend. Doch ist es eine andere Herausforderung, die sie aufnehmen. Wie schon der Titel sagt, handelt es sich um eine Choreografie, die durchgehend – drei Stunden lang – ausschließlich entlang der Wände stattfindet. Über viele Strecken hinweg sogar mit ständigem Wandkontakt durch einen Körperteil. Egal ob Schulter, Hand, Arm, Rücken oder Bauch – die Wand bietet offenkundig eine schützende Fläche, die zu verlassen höchst gefährlich erscheint. Die Kostüme ganz in schwarz und weiß gehalten – die Damen tragen Dreiviertelhosen, der Mann eine knöchellange, darüber gibt es T-Shirts, lenken in keiner Weise von den mit Bedacht gesetzten Bewegungen ab. Langsam, wie in Zeitlupe, drehen sich die fünf zu Beginn mit gestreckten Beinen, sodass es den Eindruck erweckt, als stünden sie auf rotierenden Tellern. Ein höchst eingeschränkter Bewegungsablauf holt das teilweise auf Hockern und am Boden sitzende, aber auch stehende Publikum auf einen Pace, der mit kontemplativ gut beschrieben werden kann.

Auf im Raum verteilten DIN-A4-Zetteln kann man den Ablauf des Abends im Voraus lesend nachvollziehen. 25 verschiedene Nummern sind darin mit je einem Titel und der Anzahl der Tanzenden vermerkt, aber auch mit einem Preis. Von 2.000,– bis 25.000,– , die Währung wird nicht angeführt, sind die einzelnen Szenen bewertet und wenn man aufmerksam zusieht, versteht man zumindest ab der Hälfte der Zeit, wie diese Preisgebung zustande kommt. Es ist die Komplexität der Bewegungen, der eine bestimmte Wertigkeit zugeschrieben wird. Je vielschichtiger und komplexer, je mehr Leute gleichzeitig in Bewegung, umso höher ist der Preis. Wer keinen dieser Zettel ergattert, dem fehlt diese Zusatzinformation, die aber auch dazu dient, die Länge der Vorstellung einschätzen zu können. Wie fesselnd das Geschehen ist, merkt man auch daran, dass es bislang selten eine dreistündige Aufführung ohne Unterbrechung gab, in der die Zeit so zum Schmelzen gebracht wird wie bei Chettur. Sporadisch wird das Geschehen durch einen minimal gehaltenen Sound ergänzt, der rhythmische Elemente, erzeugt durch indische Instrumente, beiträgt.

Viele der Bewegungen ähneln einander. Die Dramaturgie, die einen beständigen Wechsel von Soli, Duetten, Terzetten und dem gleichzeitigen Einsatz des gesamten Ensembles vorsieht, erzeugt jene Spannung, die sich durch den Abend zieht. Das eingeschränkte Bewegungsvokabular ergibt sich aus der Choreografie, in der das raumgreifende Element beinahe keinerlei Rolle mehr spielt. Es ist ein Leichtes, an einer freien Wand selbst auszuprobieren, welche Möglichkeiten der Fortbewegung gegeben sind, unter der Prämisse, dass die Wand nicht verlassen werden darf und permanenter Körperkontakt mit ihr eine wichtige Regel darstellt. Aus dieser Sichtweise zollt man der Choreografin umso größeren Respekt, wie vielschichtig und differenziert sie die unterschiedlichen Körper hier dennoch einsetzen kann. Eine der beeindruckendsten Passagen nennt sich „Collective rolls + Trisha Brown line“. In ihr betanzen alle fünf zugleich eine lange Wand. Dabei stehen sie Schulter an Schulter und drehen sich, ähnlich wie Zahnräder in einer analogen Uhr, teilweise um ihre eigenen Achsen und fächern sich in immer neuen Kombinationen an der Wand erneut auf. Die Referenz an die amerikanische Kult-Choreografin Trisha Brown, die Alltagsbewegungen in ihre kleinstmöglichen Teile zerlegte und damit neue Tanzsequenzen schuf, zeigt, wie sehr Padmini Chettur die Elemente ihrer eigenen, traditionellen Tanzausbildung mit jenen des westlichen zeitgenössischen Tanzes ineinander verwebt.

Allein die Dauer der Vorstellung lehnt sich an jene asiatischen Traditionen an, in welchen Tanzereignisse über viele, viele Stunden, ja sogar auch Tage ausgedehnt werden können. Darin wird oft das Leben von sozial wichtigen Würdenträgern nacherzählt. Padmini Chettur hebt diese Nacherzählung auf ein abstraktes, das Leben aller Menschen umfassendes Level. Wer bis zum Schluss der Vorstellung folgte, und in der besuchten waren es nur wenige Menschen, die schon vorzeitig den Schauplatz verließen, bekam zusätzlich zu den Impressionen dieser neuen Bewegungssprache die inhaltliche Auflösung des Stückes geliefert. Noch einmal tanzen Aditi Bheda und M. Palani ihren Geschlechtertanz, der sich nie aus der Ecke löst und erzählen dabei von körperlicher und geistiger Nähe von Mann und Frau, von Anziehung, Intimität aber auch Hilfestellung. Noch einmal wiederholen Akila, die nur mit ihrem Vornamen im Programmheft angegeben ist und Anoushka Kurien in ihrem Duett geschäftige, immer wiederkehrende Posen, die an immer gleiche Arbeitsabläufe denken lassen. Noch einmal bleibt Madhushree Basu verlassen und einsam in einer Ecke, drückt ihr Körpergewicht mit gebeugten Knien so gegen die Wand, dass man ob der gehaltenen Balance ins Staunen gerät. Bis sich schließlich alle menschlichen Verbindungen auflösen, jede und jeder für sich bleibt und in einer der zuvor aufgezeigten Bewegungsschemata verharrt. Die große inhaltliche Auflösung erfährt „Wall dancing“ schließlich in der allerletzten Sequenz.

Nach und nach lösen sich alle von der Wand, mischen sich unter das nun zum Großteil sitzende Publikum, legen sich bauchlings auf den Boden und imitieren noch einmal ganz zart Arm- und Beinbewegungen, bis diese schließlich zum Stillstand kommen. Das Lebensende, das hier mitten unter den Zuseherinnen und Zusehern imitiert wird, löst einen Schwall von Gefühlen aus. Verlinkt die Gedanken ganz zum Beginn des Geschehens und macht klar, dass die langsamen, steifen Drehbewegungen und die ausdruckslosen Blicke ins Publikum eine Metapher für den Lebensanfang darstellten. Eine Zeit, in der das gesamte menschliche Bewegungsrepertoire erst erlernt werden muss. Es wird klar, dass die Rumpfbeugen, die erst in etwa ab der Mitte der gesamten Session zum Einsatz kommen, für jene Zeit stehen, in welcher der Mensch das Leben in seiner gesamten überwältigenden Vielfalt zu meistern imstande ist. Und es wird klar, dass intensive menschliche Beziehungen, wie sie Aditi und Palani aufzeigten, eher die Ausnahme, denn die Regel im Verlauf eines langen Lebens darstellen. Die Wand, die bis zur letzten Sequenz nie verlassen wurde, bleibt nun leer zurück. Der mit nur wenigen Schritten eroberte Raum und der Boden desselben wird zu jenem Ort, an den der Mensch letztlich zurückkehrt. Die Loslösung vom vertikalen Geschehen und die Raumerfahrung wird zur Metapher für den Übertritt in eine andere Welt, die nicht erklärt werden kann, aber dennoch das Endziel jedes Lebens darstellt.

Padmini Chettur gelang mit ihrer Choreografie nicht nur eine außergewöhnliche, neue Formensprache, in der einzelne Bewegungselemente mit Benennungen wie „windmill“, „diagonal arms“ oder „horizontal tracing“ versehen sind. Es gelingt ihr auch, den Ablauf des menschlichen Lebens in eine abstrahierte Form zu gießen, die all das einschließt, was als allgemeingültiges Kondensat desselben angesehen werden kann. Eine wunderbare Arbeit, die höchsten Respekt verdient. Die Anerkennung gilt sowohl dem Ensemble als auch der Choreografin.


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