Achtung Selbstoptimierung! Warum das perfekte Ich niemals glücklich sein wird

Von Sebastian Kuehn

Selbstoptimierung: Die ständige Verbesserung des Menschen bis hin zur Perfektion. Wie gesund ist dieser Trend, wo kann er hilfreich sein und was sagen aktuelle Studien? Muss ich bei dem Trend mitmachen und wie kann ich ihm entgegenwirken?

Achtung Spoiler: Selbst Menschen, die über Selbstoptimierung schreiben und dir Tipps geben, sind auch nicht perfekt! Zum Glück! So, jetzt kann es losgehen mit einer kleinen Geschichte:

Wochenende. Es ist Samstag: Heute ist ein wirklich schöner Tag. Ich wache auf, habe seit langem mal wieder ausgeschlafen, ich fühle mich gut und beginne ganz entspannt meinen Tag. Dann bekomme ich eine Erinnerung, die auf meinem Handy eingestellt habe: Meditation.

Ich meditiere mit einer App und fühle mich gut damit, den Tag mit einer inneren Einkehr gestartet zu haben. Nach einem ausgiebigen Frühstück erinnere mich, dass ich noch in einen Drogeriemarkt wollte, um ein paar Produkte einzukaufen, also mache ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg in die Stadt.

Und spätestens hier beginnt der Wahnsinn: Kennst du das? Du fährst läufst durch die Stadt und wirst konfrontiert mit Werbeplakaten wie:

„Jetzt noch reinere Haut mit Produkt X",

„Bauchweg in 10 Tagen",

„Mit 60 immer noch so aussehen wie 30" (what??),

Frauen und Männerkörpern halb nackt oder in wunderschönen Outfits,

lächelnde Menschen mit perfekten weißen Zähnen, wunderschönen Outfits, die das Leben feiern, trinken und dabei trotzdem immer noch gut aussehen,

Bilder, die mit dem neuesten Handy in perfekter Auflösung geschossen wurden von „ganz normalen" Leuten.

Eigentlich wissen wir, dass die Hälfte der Körper oder Gesichter, in die wir blicken, retuschiert wurden. Irgendwie nimmt es schon absurde, fast lächerliche Züge an. Und trotzdem lösen diese Bilder, die sich schleichend, aber penetrant in unser Inneres einschleichen, etwas in uns aus.

Auch wenn es nur subtil oder sogar unbewusst passiert: Wir vergleichen uns und es entsteht ein Gefühl des Mangels, weil wir a) das Produkt X/Y nicht haben und/oder b) wir nicht dem gezeigten Ideal entsprechen. Die Plakate und Werbesprüche suggerieren allesamt, dass wir nicht gut so sind wie wir sind.

Ich erwische mich dabei, wie ich im Laden in den Spiegel blicke und meinen Problemzonen abgehe. Ich sehe nur die Dinge, die ich gerne verändern würde, statt liebevoll in den Spiegel zu blicken und mir zu sagen: Du bist gut so wie du bist. Keine Ahnung, wann ich sowas mal automatisch getan habe. Weißt du noch, wann oder wann das letzte Mal du sowas schon mal zu dir gesagt hast?

Ich kaufe meine Produkte ein und greife ebenfalls nach Proteinshakes für Muskelaufbau und ach ja, ein paar Nahrungsergänzungsmittel oder Super Food Pulver. Das kann ich dann ja morgen noch in meinen Frühstücksshake mixen.

Ich erwische mich öfter mal bei solchen Situationen, in denen ich mir überlege, wie ich den Tag heute noch besser machen könnte, wo ich noch ein wenig gesünder essen kann oder ob ich heute „genug für meine Gesundheit" getan habe.

Die Soziologin Stefanie Duttweiler sagt in einem Interview über Selbstoptimierungs- bzw. Glücksratgeber mit der Welt: „ [...] stellt die Forderung nach Selbstoptimierung aber auch eine Belastung dar. Denn wirtschaftlicher Erfolg und Gesundheit sind faktisch nicht in gleichem Maße für jeden erreichbar, wie es die Glücksratgeber vermitteln. Das kann für Leser frustrierend sein und auch zu Selbsttäuschung führen. "

Die gute Nachricht auf der anderen Seite sei, dass eine Verbesserung des Selbst aus eigener Kraft heraus möglich ist und nicht einfach nur von externen Faktoren abhängig sein muss. Lange schon muss Gesundheit oder Krankheit kein Zufall mehr sein.

Über „Self Tracking" und das „Quantified Self"

Selbstverwirklichung und die volle Ausschöpfung des eigenen Potenzials gehören laut Abraham Maslow zu den Bedürfnissen des Menschen. Ebenso gehört der Vergleich mit anderen dazu. Dieser bietet uns eine Orientierung im Leben.

Doch in der gegenwärtigen Zeit, in der Zeit der 1.001 Möglichkeiten, in der wir das Maximum aus allem herausholen wollen, kann auch der Vergleich mit anderen immer problematischer werden. Wir streben nach Perfektion.

Aber vielleicht ist die Perfektion in der heutigen Zeit doch nicht mehr so unmöglich? Was wäre denn, wenn wir uns perfekt kennen würden und wirklich unser Higher Self werden können? Auf psychischer und physischer Ebene?

Hast du schon mal was von der Quantified Self Bewegung gehört? Der Begriff wurde im Jahre 2007 von Gary Wolf und Kevin Kelly geprägt. Es geht hier um Selbstkenntnis durch Zahlen. In einem Experiment hat Sebastian als " Selbstoptimierer " in 2018 einen Monat lang getestet, was es heißt, seinen kompletten Alltag zu quantifizieren.

Durch Self-Tracking, die man von z.B. von Schlaf- oder Bewegungs-Apps kennt, kann der Mensch also wir durch stetige Sammlung von Daten mehr über Gesundheit und den gesamten Organismus erfahren. Es gibt mittlerweile schon eine Community, regelmäßige Meetups und Konferenzen zu diesem Thema.

Bei der Quantified Self Bewegung geht es um die freiwillige Erhebung von biologischen, psychischen und physischen Werten, die z.B. Körpergewicht, Schlafenszeit, Ernährung, psychisches und physisches Befinden messen. Zudem werden Arbeitszeit oder Schritte gemessen und die Daten auf der jeweiligen App gespeichert.

Perfekten Menschen fehlt es an Fehlern. Ferstl

Auf den ersten Blick sind diese Tracking-Apps gar nicht so schlecht und können uns zur Verbesserung unserer Gesundheit verhelfen. So weit so gut. Ich wette, du hast auch eine dieser Apps auf deinem Smartphone und sei es, dass du einmal einen Sleep-Timer oder einen Schrittzähler ausprobiert hast. Vielleicht aus reiner Neugierde.

Auch für erkrankte Menschen sind solche Tracking Apps sicherlich sehr hilfreich. Im heutigen Gesundheitssystem, in dem für den einzelnen Patienten sehr wenig Zeit eingeräumt wird, kann solch eine App große Sicherheit bieten. Somit könnte der Arzt in Zukunft als Berater und Co-Creator dienen (Bahrs, 2003).

Ein Problem bei diesen Messgeräten kann laut einer laufenden Studie der Iowa State University die fehlende Akkuratheit der Messgeräte sein. Die durchschnittlichen Abweichungen von Messungen betrugen zwischen 15% und 30%.

In einer anderen Studie, in der 200 weibliche FitBit -Trägerinnen befragt wurden, gaben 79% der Studienteilnehmerinnen an, dass sie sich durch die Tracker unter Druck gesetzt fühlen. 30% gaben an, dass sie sich schlecht fühlen, wenn sie ein bestimmtes Ziel, welches durch die Tracker vorgegeben wurde nicht erreicht wird.

Woher kommt das?

Psychologisch gesehen wird die Kluft zwischen Ideal-Selbst und Real-Selbst immer größer und die vermeintliche Verbesserung des eigenen Zustandes treibt uns ins genaue Gegenteil: ein mangelndes Selbstwertgefühl oder sogar Burn-Out und Depression kann entstehen.

Neben einer Gefahr der eigenen Über-Überwachung (Bowden, 2012) kann das Tracking auch paranoide oder hypochondrische Züge annehmen (Rauner, 2012). Eine weitere Gefahr bestehe laut Thoermer (2012) darin, dass der Mensch durch Self-Tracking das Vertrauen auf das eigene Körpergefühl verlieren kann. „ Im Extremfall glaubt jemand, schlecht geschlafen zu haben, weil ein Gerät eine schlechte Schlafqualität gemessen hat - auch wenn derjenige sich eigentlich ausgeruht und bereit für den Tag fühlt ", sagt sie in ihrem Artikel.

Das Glück gehört denen, die sich selbst genügen. Denn alle äußeren Quellen des Glückes und Genusses sind ihrer Natur nach höchst unsicher, misslich, vergänglich und dem Zufall unterworfen. Schopenhauer

Zurück im Drogeriemarkt an der Kasse. Das Thema Selbstoptimierung scheint zum Modewort geworden zu sein. Ein Produkt, welches wir nur erwerben müssen, sodass sich unser Leben leichter, gesünder und unbeschwerter anfühlt. Nach einer Weile merke ich, dass das gar nicht stimmt. Wir können keinen schönen Körper kaufen, keine Falten wegtrainieren, keinen gewünschten Lebensstil kaufen.

Schluss mit Selbstoptimierung, her mit Selbstliebe

Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich. Hesse

Was können wir also tun, um diesem Wahn, der da draußen und vielleicht auch schon bei uns selbst Einzug gehalten hat, entgegenzuwirken? Die Antwort lautet ganz banal: Liebe! Etwas weniger kitschig ausgedrückt bedeutet das:

1) Mach die Ziele der anderen nicht zu deinen eigenen. Schau nach deinen eigenen Bedürfnissen statt dich ständig im Außen zu vergleichen. Was brauchst DU für dich, um dich gut zu fühlen? Reflektiere immer wieder über diese Ziele. Wo hast du dich vielleicht übernommen?

2) Baue eine realistische Haltung auf: Gehe nicht ständig über deine Grenzen hinaus, sondern schaue, was wirklich realistisch ist, sodass dein Wunsch- und Real-Selbst nicht zu viel voneinander abweichen und du somit dein Selbstwertgefühl steigern kannst.

3) Weniger ist manchmal mehr: Stelle dir die Frage, was dir gut tut und reduziere dich auf wenige Aktivitäten. Überfordere dich nicht.

4) Räume dir dir bewusst Ruhezeiten und einfach nur „Rumhänge-Zeiten" ein. Auch die vermeintliche Langeweile ist für das Gehirn super wichtig, sodass es sich wieder aufladen kann und du zu neuen Impulsen findest. Gerade Menschen mit dem Antreiber „Sei perfekt" ( Artikel über Antreiber) sind hier gefährdet, diese Ruhezeiten zu übergehen und immer weiterzumachen. Bis hin zum Burn-Out.

5) Habe keine Angst vor Kontrollverlust: Lass los, was dich stresst, statt es festzuhalten.

Wenn man glücklich ist, soll man nicht noch glücklicher sein wollen. Fontane

Mein Fazit

Ziele haben, auf sich achten und gesund leben sind von Vorteil. Glück aber kann man nicht durch Optimierung erreichen.

Glücklich ist man gerade dann, wenn man dazu in der Lage ist, seinen momentanen Zustand bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen. Jede Person muss aber schlussendlich selbst wissen, was ihm Sicherheit bietet und wo die Grenze zum Zwang gezogen wird.

Danke, dass du dir Zeit für den Artikel genommen hast.

Alles Liebe <3

Über die Autorin

Alexandra Kuptz ist selbständige Psychologin. Sie versteht sich als Motivatorin und Glücksbeauftragte und begleitet Einzelpersonen und Gruppen auf ihrer Visions- und Sinnsuche mit einer gesunden Portion Witz und Achtsamkeit.

Weitere Beiträge von Alexandra