Absurde Wahlfreiheiten und verfassungswidrige Hartz-IV-Sätze

Derzeit schlägt die Empörung darüber, dass die Regierungs-Koalition ausgerechnet mit dem denkbar dämlichsten Kompromiss in Sachen Herdprämie ihr Gesicht wahren will, zu recht hohe Wellen: Natürlich ist es eine absurde Idee, “Wahlfreiheit” herzustellen, in dem man ausgerechnet den Menschen, die ohnehin keine Wahl haben, auch weiterhin keine Wahlmöglichkeit lässt: Eine alleinerziehende Hartz-IV-Bezieherin, die keinen Kindergartenplatz bekommt, weil sie ja eh zuhause ist, braucht natürlich gar nicht erst vor die Wahl gestellt werden, ob sie nicht vielleicht wenigstens das Bereuungsgeld kassieren will, wenn sie schon nicht vom staatlichen Ausbau der Kinderbetreuungsangebote profitieren kann.

Absolut genial: Formal wird das Betreuungsgeld zwar gezahlt, aber dann als Einkommen mit dem jeweiligen Bedarfssatz verrechnet! Doch ob das Ministerium von Kristina Schröder oder das von Ursula von der Leyen auf Kosten der Hartz-IV-Kinder sparen kann, wird den Betroffenen dieser Verarschungsaktion herzlich egal sein. Gutverdiener, die ohnehin die Wahl haben, ob sie ihr privat Kind zuhause oder vom Kita-Personal betreuen lassen, können das Taschengeld dagegen noch zusätzlich einstecken, wenn sie sich für das Au-pair-Mädchen entscheiden. Das sind Wahlmöglichkeiten, wie Liberal-Konservative sie lieben!

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass das Berliner Sozialgericht die derzeit geltenden Regelsätze für Hartz IV ohnehin als zu niedrig ansieht. Laut einem heute veröffentlichen Beschluss (Az. S 55 AS 9238/12) kam das Gericht zu der Ansicht, dass die aktuellen Regelsätze das “Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums” nicht erfüllen würden.

Eine Familie aus Neukölln hatte gegen das zuständige Jobcenter geklagt, weil sie trotz größter Sparsamkeit nicht mit den bewilligten Leistungen auskam. Das Gericht stellte fest, dass die Familie zwar nach den geltenden Vorschriften keine höheren Leistungen zustehen würden. Der Gesetzgeber hätte aber bei der Festlegung des Regelsatzes seinen Gestaltungsspielraum verletzt: Die Berechnungsgrundlage für die Höhe des notwendigen Bedarfs sei nicht nachvollziehbar. Zum einen gebe es systematische Fehler bei der Bestimmung der Referenzgruppe. Zum anderen sei nicht ersichtlich, in welcher Weise von den jeweiligen Ausgaben dieser Referenzgruppe auf die Höhe des jeweils notwendigen Bedarfs geschlossen werden könne. Auch der Ausschluss bestimmter Waren und Dienstleistungen sei nicht schlüssig begründet. Der Gesetzgeber habe bei seinen Berechnungen nicht beachtet, dass auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen möglich sein müsse. Ein Alleinstehender müsse nach Ansicht des Sozialgerichts monatlich etwa 36 Euro mehr, eine dreiköpfige Familie etwa 100 Euro mehr zur Verfügung haben.

Nun gibt das Sozialgericht den schwarzen Peter also wieder an das Bundesverfassungsgericht zurück. Dieses hatte bereits im Februar 2010 entschieden, dass die Berechnung der Regelsätze beim ALG II verfassungswidrig sei. Daraufhin hat die Politik ein wenig an den Zahlen herumgeschraubt, heraus gekommen ist dabei außer noch mehr Bürokratie allerdings noch immer nichts Verfassungskonformes. Vielleicht kann Ministerin Schröder diesen asozialen Vorschlag zum Betreuungsgeld gleich dazu legen, damit das BVerfG den auch gleich kassieren kann. Würde bestimmt viel Zeit und Geld sparen.

Wobei: An der prinzipiell erbärmlichen Situation, dass irgendwelche Politiker sich anmaßen, den Menschen hier im Lande die Brotscheiben abzuzählen, nur weil man deren Arbeitskraft gerade nicht benötigt, ändert sich auch mit 36 Euro mehr oder weniger gar nichts. Ich finde nicht, dass es mit ein paar Euro Regelsatz hier und ein paar Euro Betreuungsgeld dort getan ist. Aber die ohnehin schon haarsträubenden Zustände werden durch die oben genannten Kabinettstückchen immerhin ein wenig sichtbarer.



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