Aber sie empören sich doch!

Stéphane Hessel kennt die Zustände in Deutschland nicht. Wie sonst könnte man erklären, dass er sein Büchlein ins Deutsche übersetzen ließ? Empört Euch! rät er damit auch den Deutschen - als ob sie es nicht täglich, nicht immer wieder und immer öfter täten. Sie empören sich doch - und wie sie es tun! Die Empörungskultur ist in diesem Lande fest verankert, man braucht wahrlich keine Streitschrift wie jene von Hessel. Die wirklichen, die leidenschaftlichsten Empörer leben in Deutschland; der Empörer an sich spricht deutsch - vive L'Empereur!

Die Empörung muß von unten kommen, schreibt Hessel in etwa. Alle müssen mitmachen, die "Ohne mich"-Typen sind die tatsächliche große Gefahr, schreibt er. Und in Deutschland schwappt die Empörung von unten herauf, der deutsche Kleinbürger ist ein sich empörender Geselle. Der kleinbürgerliche Empörer aus Deutschland blickt in jene großformatige Zeitung, die im Namen schon stehen hat, dass ihr Bebilderung wichtiger als Beschreibung ist. Die Empörung ist täglich groß. Man empört sich, weil Erwerbslose sich herausnehmen, vor Sozialgerichten oder dem Bundesverfassungsgericht um ihre Würde zu prozessieren; man empört sich, weil mancher Türke noch schlechter des Deutschen mächtig ist als so ein Gimpel aus dem Bayerischen Wald; man empört sich, weil ein schiefschnäuziger Stammler seine kruden Gehirnspasmen nicht aussprechen darf, ohne dafür gerügt zu werden; man empört sich, weil Sexualstraftäter auch ein Recht auf Resozialisierung besitzen; man empört sich mit Pappschildchen und Trillerpfeifen, weil der eigene Vorgesetzte, ein Bankster, entlassen werden soll; man empört sich, weil das Benzin nicht zum Selbstkostenpreis an Tankstellen feilgeboten wird...

Die Empörung ist in diesem schönen Lande eine Konstante. Der Kleinbürger könnte gar nicht existieren, wenn er nicht ständig etwas oder jemanden hätte, der dessen Empörung entfacht. Hessel hat nicht beachtet, dass die deutsche Gesellschaft nur als Gesellschaft zusammenklebt, weil sie sich als Schicksalsgemeinschaft gegen zu empörende Zustände wähnt. Was den Großteil der Deutschen eint ist die Empörung gegen Schwächere und Wehrlose, gegen vermeintliche Ungerechtigkeiten, wie den hohen Benzinpreis - man empört sich nicht etwa darüber, wie Benzin gefördert, wie Menschen ausgebeutet, Regionen ausgesaugt, Kriege deshalb geführt werden; man empört sich, weil sich die eigene Selbstbedienungsmentalität geschmäht fühlt. Der Kitt der deutschen Gesellschaft ist, dass man sich entrüsten, gegen etwas anstänkern kann.

Sich wieder trauen, sich gegen jene zu empören, die vermeintlich mächtiger sind, am längeren Hebel sitzen: das meinte Hessel freilich! Denn empört wird sich genug - nur am falschen Ende, gegen die Falschen. Denn diejenigen, gegen die man mit Empörung auflaufen sollte, schaffen als Surrogate etwaige Empörungsersatzgruppen: Arbeitslose, Rentner, schwererziehbare Kinder, Ausländer und andere. So wird die Empörung umgeleitet und von denen weggelotst, die eigentlich mit ihr konfrontiert werden müssten. Der Kleinbürger hätte ja durchaus durchschlagende Wirkung mit seiner konditionierten Empörungskultur; er müsste halt nur gegen jene in Stellung gebracht werden, die die Demokratie und den Frieden wirklich bedrohen...


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