Das Auswandern in ein fremdes Land bedeutet zwangsläufig auch die eigenen Gewohnheiten neu zu überdenken, eingefahrene Verhaltensweisen, Bekanntes und Vertrautes aufzugeben. Wie schwer es ist, einmal Erlerntes und stets Angewandtes umzudenken oder loszulassen, erfahre ich gerade am eigenen Leib. Und zwar auf den englischen Straßen.
Warum die Briten links fahren
Bevor ich mich ins Abenteuer Linksverkehr stürze, will ich ein paar Fahrstunden nehmen, denn einfach so ins Auto steigen und auf der falschen Seite fahren, damit ist es eben längst nicht getan. Das englische Verkehrssystem unterscheidet sich zwar nicht allzu sehr vom deutschen, aber dennoch gibt es ein paar Besonderheiten zu beachten.
Aber warum fahren die Engländer eigentlich links? Nun es handelt sich hierbei keineswegs um eine britische Marotte. Fakt ist, dass der Linksverkehr einst in ganz Europa Usus war. Doch warum links und nicht rechts? Hierfür gibt es mehrere Gründe, die infrage kämen. So munkelt man, dass dies damit zusammenhänge, dass die Ritter zu Pferde ihr Schwert einst auf der rechten Seite trugen und daher links aneinander vorbeiritten. Eine denkbare Erklärung wäre auch, dass der Kutscher zur Zeit der Pferdefuhrwerke auf dem Bock meist rechts saß, um beim Ausholen mit der Peitsche nicht die Passagiere hinter ihm zu treffen und er fuhr links, um anderen Kutschen besser ausweichen zu können, ohne Gefahr zu laufen, unter die Räder zu kommen. Außerdem bestieg man das Pferd von links, um es nicht mit dem eigenen Säbel zu erdolchen.
Und wem verdanken wir Deutschen dann den Rechtsverkehr? Ganz einfach: den rebellischen Franzosen. Kein Geringerer als Robbespierre führte diesen während der Französischen Revolution gesetzlich ein, Napoleon erweiterte diesen Beschluss im Zuge seiner Eroberungszüge dann auch auf weitere europäische Länder. Immerhin herrscht heute noch in einem Drittel der Welt Linksverkehr.
Fahrschule? Falsch verbunden!
Ich gebe zu, bevor ich nach England kam, habe ich meinen Führerschein eigentlich schon abgeschrieben. Das wars dann, für immer von der Straße verbannt. Doch dann entschied ich mich um. In unserer Gegend braucht man einfach ein Auto. Jedes Ausflugsziel, das ich mir bisher ausgesucht habe, benötigt mindestens eine vierstündige Zugfahrt. Pah, ich trödel ja gern, aber so viel Zeit habe ich nun auch nicht. Außerdem wird es langsam etwas nervenzehrend, die schweren Einkaufstüten den Berg hinan zu tragen, wenn mein Engländer auf Arbeit ist. Also selbst ist die Frau. Doch wie läuft das hier eigentlich mit der Fahrschule? Ich taste mich langsam ran, schreibe erstmal eine Email an die billigste Firma, die ich im Netz auftreiben kann. “Nimm dich in acht vor den asiatischen Fahrlehrern”, lasse ich mir sagen. Ich habe keinen Schimmer, was das eigentlich bedeute soll, lasse mich aber gern inspirieren. Als ich nach einer Woche immernoch keine Antwort im Postkasten habe, recherchiere ich weiter, befrage Google nach Fahrschulen im Umkreis. Doch ich finde weder seriöse Internetauftritte, noch brauchbare Adressen. Etwas ratlos werfe ich schnell noch einen Blick in die Gelben Seiten und entdecke eine Schule mit dem wohlklingenden Namen DaleDrive School of Motoring. Das versuche ich mal, schnappe mir mein Telefon und wähle die angegebene Nummer. Eine etwas verschlafene Frauenstimme am anderen Ende der Leitung gibt mir zu verstehen: “Die gibts nicht mehr.” Alles klar. Wieder nichts.
Fünf vor acht
Ich suche weiter, etliche Chipstüten später stoße ich auf Andy aus Huddersfield. Der kecke Mittvierziger betreibt zumindest eine ordentliche Webseite und verfügt sogar über ein paar anständige Kritiken. Okay, die können auch manipuliert sein und der Typ ein irrer Psychopath, aber hey, wer nicht wagt … Also öffne ich nochmal ein Verfasserfenster, tipp ein paar nette Zeilchen und ab damit. Nur wenige Stündchen später bekomme ich direkt ein tolles Angebot: “Hi Stefanie, geht klar. Montag acht bis zehn Uhr (nee, nee, die Zeit hab ich selbst vorgeschlagen). Preis pro Stunde 21 Pfund”, mal sinngemäß zusammengefasst. Aber Momentchen mal, wo muss ich denn hin? “Der holt dich doch hier ab”, grient mich mein Engländer an. “Wie, der holt mich ab?”
Ja, genau das ist einer der Unterschiede zur deutschen Fahrschule, denn hier in Nordengland (über andere Gegenden kann ich nicht richten) gibt es im Grunde keine Fahrschulbüros, wo man hingehen kann und sich den Lehrer seines Vertrauens vorher mal näher anschauen kann. Nee, hier im Norden ist der Fahrlehrer eine Ich-AG, das Büro sein Autochen. Das verlangt natürlich eine große Portion Vertrauen, aber das System muss sich ja bewähren, denn im Moment trägt jedes fünfte Auto, das mir begegnet ein großes “L” auf Dach oder Motorhaube. Das steht für Learner (Lerner) und wird auch von Fahranfängern gern verwendet. Natürlich ist der Tür-zu-Tür-Service superbequem und ich als kleiner Faulpelz bin sehr davon angetan. Und so buche ich an einem Freitagabend meine ersten englischen Fahrstunden mitten in der morgendlichen Rush-Hour (Hauptberufsverkehrzeit).
Diese Entscheidung wirft mein Wochenendentspannungsprogramm jedoch komplett über Bord. Meine Nerven liegen blank, ich bin jetzt schon hochgradig nervös. Ein wenig Vorbereitung kann nicht schaden, also laufe ich zum Postamt und besorge mir die britische Verkehrsfibel, den “Highway Code”. Hier findet sich alles, was das Herz begehrt zum Thema Straßenverkehr. Doch nach den ersten Seiten bin ich platt. Ich erkenne kaum Unterschiede und ehrlich gesagt, bin ich eher ein Tatmensch und lerne in der Anwendung besser als in der Theorie. Dennoch ein hübsches Regelwerk mit vielen netten Bildchen und Erläuterungen. Kann nicht schaden, das in der Heimbibliothek unterzubringen. Meine Gedanken kreisen unaufhörlich um die Multitasking-Herausforderung: links fahren, rechts sitzen, links schalten. Als ich erfahre, dass zumindest die Pedalen an derselben Stelle sitzen und nicht auch noch spiegelverkehrt sind, bin ich etwas beruhigter. Na ja, und die Tatsache, dass mein Beifahrer jederzeit eingreifen kann, ist auch nicht so schlecht. Wie auch immer, der Sonntagabend naht und ich beschließe noch vor zehn im Bett zu sein. Übrigens kann ich es nur empfehlen, sich vor dem Wegnicken ein oder zwei Folgen Moomins anzuschauen. Die knuffigen Comicfiguren beruhigen ungemein. Ich nehme mir ein Beispiel an meiner Lieblingsheldin Little My und will auch mal tapfer sein.
Englands ultimative Verkehrsfibel
Am nächsten Morgen lasse ich mir kaum Zeit im Bad, frühstücke nur halbherzig und verzichte sogar ganz auf meinen geliebten Kaffee, um mir lästiges Blasendrücken zu sparen. Fünf vor acht schmeiße ich mich in meine Ausgehkluft, schnapp mir meine Dokumente und will meinen Hintern gerade gerade aus der Tür hinausbefördern, da zwitschert mein Telefon. “Sie haben eine Nachricht”. Nee, oder? “Sorry Stefanie, familäre Schwierigkeiten. Kann leider nicht kommen, Gruß Andy.”
Ich muss mich erstmal hinsetzen. Wie ein veräppeltes Huhn in der Übersprungsreaktion mache ich erstmal was ganz anderes: gar nichts. Gelähmt und schockgefroren stehe ich mitten in der Küche und weiß nicht ein noch aus. Fünf Minuten vor Abflug! Der Typ ist mal ordentlich unten durch.
Nachdem ich die Sache halbwegs verdaut habe, zwitschert das Handy erneut: “Falls du trotzdem noch Interesse hast, finden wir sicher einen neuen Termin.”
Ja genau. Du Depp.
Ein Hoffnungsschimmer am Horizont
Ich lege das Vorhaben erstmal ad acta. Zu tief sitzt die Enttäuschung. Doch ich will verdammt nochmal auf die Straße, also fasse ich neuen Mut und suche diesmal gezielt: eine Fahrlehrerin. Ruth aus einem der umliegenden Dörfer scheint mir passend zu sein, nicht nur, dass auch sie ausgezeichnete Kritiken erhalten hat, sie trägt auch den schönen Namen meiner Omi. Vielleicht ein gutes Omen. Es stellt sich raus: Ruth ist ein Glücksgriff!
Auch sie holt mich zu Hause ab, ist superpünktlich vor Ort und erklärt mir genauestens ihren Fahrplan. Ich bin die erste Schülerin, die schon fahren kann und die sie aufs Linksfahren eicht. Das macht vieles leichter, für sie und für mich. Sie lässt mich nicht gleich ans Steuer, was ich gut finde, denn die Straße vor unserem Haus ist recht belebt und sie kennt meinen Fahrstil noch nicht. Also fahren wir zu einem breitspurigen Highway und wir tauschen die Plätze. Das Fahrschulauto ist ein winziger roter Toyota. Als zwergähnliches Wesen quetsche ich mich so nah ans Lenkrad, wie es nur geht. Ich probiere mit der Schaltung rum, fahre kurz an, versuche mich an das neue Fahrgefühl heranzutasten. Und es ist gar nicht so schlimm, wie ich es gedanklich durchgespielt hatte. “Willst du losfahren?”, fragt mich Ruth und ich nicke.
Dann rollt das Autochen los und ich lenke. Wow, ich kann es nicht fassen. Ich fahre echt auf der falschen Seite, überhole einen Fahrradfahrer links und schleiche mit 20 Meilen den Highway hinauf. Verwegen! Ich bin schon jetzt völlig durchgeschwitzt, mein Nacken verkrampft sich mit jedem Meter. Doch ich lerne schnell, dass ich nicht nur links fahren muss, ich muss auch Verkehrsregeln beachten. Im Grunde ist die Sache recht einfach, nicht so verkrampft wie bei uns. Geblinkt wird eigentlich nie, weder beim Anfahren, noch beim Ranfahren, nicht beim Überholen oder Rückwärtsfahren. “Wenn du früh genug reagierst, wissen die hinter dir schon von selbst, was du vorhast.” Telepathie im Straßenverkehr. Hier scheints zu funktionieren. Auffällig ist auch, dass es nur wenige Ampeln gibt, dafür umso mehr Kreisverkehr, manchmal so klein gehalten, dass man den gar nicht als solchen erkennen kann und gewillt ist, da einfach so rüberzubrettern. Doch hier gilt eben rechts vor links. Das System ist äußerst logisch, wenn man es erstmal begriffen hat. Auch fahren die Briten, wie mir scheint etwas umsichtiger, kein Gehupe, kein Gedrängle, kein Machogehabe.
In so einem Roundabout kann man Stunden zubringen.
Ich fahre nur ganze zwei Mal komplett auf der rechten Seite, komme aber nicht weit, denn Ruth greift mir ins Lenkrad und befördert mich mit einem “Äh, äh, falsches Land!” in die richtige Bahn. Ich habe so meine Schwierigkeiten, abzuschätzen, wie viel Platz zur Trockensteinmauer mir auf der linken Seite bleibt und verfange mich einmal in einem größeren Busch. Doch Ruth bleibt gelassen und manövriert uns da gekonnt wieder hinaus. Am meisten Schiss hatte ich als Flachlandbewohner ja vorm Anfahren auf dem Berg. Meine größte Herausforderung war der leichte Anstieg hinterm S-Bahnhof Marzahn zur Landsberger hin. Hat nie funktioniert, nie. Hier lerne ich durch ein ausgewogenes Zusammenspiel von Handbremse, Kupplung und Gaspedal den Hintern gekonnt über den Hügel zu bringen und dabei nicht zu Röhren wie ein ganzes Hirschrudel. Plötzlich klappts. Ist also alles halb so wild.
Optisch betrachtet gibt es auf Englands Straßen ein paar Kuriositäten, die sich aber gut erklären lassen. So sind die Verkehrsschilder extrem niedrig angebracht. Ja klar, bei diesen häufigen Stürmen hier nur sinnvoll. Auf die Frage, warum manche Kreuzungen doppelt bis dreifach mit Ampeln ausgestattet sind, erwidert Ruth nur: “Damit es auch wirklich jeder sehen kann.” Doppelt zu sehen ist ja eigentlich in diesem Land auch ziemlich normal.
Ich werde vermutlich noch ein paar Stündchen in Anspruch nehmen, bis ich ganz und gar auf der sicheren Seite bin (ha ha). Dann will ich mir ganz bald auch ein Gefährt zulegen. Und weil ich schon mal am Grenzen überschreiten bin, am liebsten einen richtigen Jeep.