Aaurhus wird Europäische Kulturhauptstadt 2017: Reich, zufrieden, kreativ

von Robert B. Fishman

Aarhus wird 2017 Europäische Kulturhauptstadt. Der Metropole Jütlands geht es gut. Kaum Arbeitslose, 40 Prozent der Bewohner studieren oder haben einen Hochschulabschluss. Dänemarks jüngste Stadt sprüht vor Ideen. 

Zeitreise in eine Stadt vor 100 Jahren

Freilichtmuseum Den Gamle By in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Freilichtmuseum Den Gamle By in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Das Eingangstor steht offen. Niemand zu sehen. Aus einem windschiefen, zweistöckigen Fachwerkhaus dringt ein leises Schnarchen. Ein alter Mann in liegt in einer aufgezogenen Schublade: ein Holzbett. In der Hand hält er eine schmutzige Flasche. Neben ihm sitzt ein blondes Mädchen. Sie trägt eine schmutzige Küchenschürze über dem blauen Kleid und schaut verängstigt auf den Schlafenden. Sie scheint aufstehen zu wollen, bewegt sich aber nicht. Sie ist eine lebensgroße Puppe.

In anderen Häusern des Freilichtmuseums Gamle By arbeiten Schuster, Schreiner oder Töpfer früherer Jahrhunderte in originalgetreuer Umgebung. Die lebensgroßen Puppen sehen aus wie lebende Menschen. Die perfekte Illusion.

In ganz Dänemark hat Gamle By seit seiner Gründung 1909 Häuser abgebaut und zu einer neuen alten Stadt zusammengefügt: eine Mühle, ein Marktplatz, eine Gärtnerei mit Gewächshäusern. In einem Hinterhof hängt über einer alten Wasserpumpe Wäsche an der Leine, als kämen die Bewohner gleich zurück.

In einen Innenhof sitzen zwei Frauen hinter schwarzen Pferdekutschen auf einem Mühlstein bei der Zigarettenpause. Mette, die blonde Kräftige, schreibt für eine Lokalzeitung an der Westküste. Trotzdem wohnt sie weiterhin in Aarhus, „weil sie diese Stadt liebt“. Die 33jährige hat hier Journalismus studiert. Sie füttert die Pferde und mistet den Stall aus. Im Sommer fährt sie Besucher mit den Kutschen übers Gelände.

Freilichtmuseum Den Gamle By in Aarhus, schlafender betrunkener Alter mit Kind, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Freilichtmuseum Den Gamle By in Aarhus, schlafender betrunkener Alter mit Kind, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

soziale Architektur

Wie ihre Kollegin Anna, die sich hier Geld zum Studium dazuverdient,  wundert sie sich über das neueste Großprojekt der kleinen Metropole: 2017 wird Aarhus Europäische Kulturhauptstadt. Re-Think, Neu Denken nennen die Macher ihr Konzept des Programms. Zwei Millionen Kronen habe die Stadt für eine Werbekampagne ausgegeben, die die meisten Einheimischen nicht verstehen. „Warum Englisch, warum ein so abstrakter Titel?“

Die Suche nach Antworten führt zu einem UFO, das im Hafen auf der anderen Seite der Innenstadt gelandet ist. DOKK1 steht in weißer Leuchtschrift auf dem grauen Raumschiff am Wasser.

Das Dokk 1 beherbergt eine der größten öffentlichen Bibliotheken Skandinaviens, Bürgerberatung, Tagungsräume, Vortragssäle, Büros. Neben den breiten Stufen haben die Architekten Rollstuhlfahrern komfortable Rampen gebaut.

Kulturzentrum und Bibliothek Dokk 1 in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Kulturzentrum und Bibliothek Dokk 1 in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Als „soziale Architektur“ beschreibt Rebecca Matthews die modernen Bauten des Nordens. Offene Treppen verbinden die verschiedenen Etagen, helle, hohe Räume, Sitz- und Spiel-Ecken. Dänische Gebäude nennt die Leiterin des Kulturhauptstadt-Programms »therapeutisch«. „Sie regen den Körper zur Bewegung an.“

Matthews ist vor ein paar Jahren aus England nach Aarhus gezogen. Ihre Wahlheimat erlebt sie als »Inkubator für Ideen in Kunst, Kultur und Medien«. An den Hochschulen studieren junge Leute Journalismus, Mediendesign und weitere kreative Fächer.

Immer wieder staunt die weltgewandte Britin über den Gemeinschaftsgeist, der in Dänemark nicht nur die Architektur prägt. „Kinder wachsen als Mittelpunkt der Familie frei auf.“ Überall dürften sie spielen, auf den Treppen des Dokk 1, am nahen Strand, auf den vielen verkehrsberuhigten oder autofreien Straßen und den vielen Grünflächen.

Das Motto Re-Think versteht Matthews als Anregung, gemeinsam die großen Themen unserer Zeit zu überdenken: Landflucht, Umweltzerstörung, Nachhaltigkeit. Im Kulturhauptstadtjahr will sie auf dem »World Creativity Forum« Künstler, Denker, Wissenschaftler und Leute aus der Wirtschaft zusammenbringen.

Kunst soll auf die Menschen zugehen. Im kommenden Sommer wird eine vier Kilometer lange Installation die Innenstadt bis zum Hafen durchziehen, eine weitere Jütland von Ost nach West durchqueren.

Der Reiseführer Lonely Planet hat Aarhus schon auf den zweiten Platz  Top-Ziele Europas gesetzt. 2017 erwartet die Stadt drei Mal so viele Kreuzfahrtschiffe wie 2015.

Aaurhus wird Europäische Kulturhauptstadt 2017: Reich, zufrieden, kreativ

Rentner renovieren ehrenamtlich das letzte noch fahrtaugliche Transportschiff „Jakob“, mit dem die Alliierten 1944 in der Normandie gelandet sind, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Jacobs zweites Leben

Vor 1000 Jahren gründeten die Nordmänner Aarhus an einer geschützten Bucht. Erst in den letzten Jahrzehnten hatte sich Aarhus vom Wasser abgewandt. Am Hafen standen Lagerhäuser, Fabriken, Kräne und Lastwagen. Die Flächen dazwischen dienten dem Auto- und Warenverkehr. Jetzt baut sich die Stadt eine neue Promenade. An deren nördlichem Ende wächst Zukunftsarchitektur in den Himmel. Århus Ø, Aarhus Ö heißt das neue Quartier für 8.000 Menschen hinter der Strandbar mit ihren Beachvolleyball-Feldern.

Als „Garten am Wasser“ preist die Stadt ihr neues, von Kanälen durchzogenes Viertel: Wolkenkratzer, geschwungene Bauten, das einem Leuchtturm nachempfundene Lighthouse und der Eisberg, ein in weiss und türkisblau gehaltener, bizarr geformter Komplex aus scheinbar ineinander verschachtelten Apartments.

Schwimmende Meerschweinchen beim Abendessen

Angler am Hafen von Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Angler am Hafen von Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

„Oh, die sind wohl gerade beim Abendessen und haben keine Zeit für uns.“ Hindrik antwortet gerne mit Humor. 18.000 Schweinswale tummeln sich angeblich in der Meeresbucht vor Aarhus Ø. Mit einem Freund hat Hindrik die Sea Rangers gegründet. Mit Schnellbooten fahren die beiden Besuchergruppen auf die See, um ihnen das Leben im Wasser zu zeigen. Kurz taucht tatsächlich eine bleigraue Flosse auf, um sofort wieder zu verschwinden. Marswin, Meerschweine, heißt die kleinste Delfinart auf Dänisch. Vor 30 Jahren sei die See hier tot gewesen, mit Abwässern vergiftet. Heute gebe es wieder reichlich Fische, Seehunde und neues Leben an den künstlichen Riffen, die die Sea Ranger angelegt haben.

Das neue Aarhus liegt hinter dem ehemaligen Güterbahnhof, den die Stadt zum Kulturzentrum umgebaut hat. Junge Leute haben das weitläufige Freigelände zwischen den stillgelegten Gleisen besetzt, improvisierte Cafés und ein kleines Restaurant eröffnet. Viele leben und arbeiten in Containern, die sie in gemütliche Behausungen verwandelt haben. »Mad Bar« steht in weißer Handschrift auf einer schwarzen Tafel an einem der rostbraunen Container. Durch das eingeschnittene Fenster schenkt Christian Kaffee aus.

Die beiden versetzt übereinander gestapelten Schiffscontainer gegenüber hat sich der 30jährige zur Wohnung umgebaut: Decke und Wände isoliert, innen mit Holz vertäfelt, einen Fußboden verlegt, Fenster und eine Tür hineingeschnitten. Mit einem Geschäftspartner will er damit Geld verdienen: Wir kaufen gebrauchte Container, bauen sie aus und vermieten oder verkaufen sie weiter: eine Marktlücke angesichts der Wohnungsnot in Europas Grossstädten.

Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von Visit Denmark.

weitere Informationen:

restaurierte alte Häuser an der historischen Mühlgasse Moellestien in Aarhus , 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

restaurierte alte Häuser an der historischen Mühlgasse Moellestien in Aarhus , 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Tourist-Info Aarhus

Europäische Kulturhauptstadt 2017

Fahrradvermietung und geführte Radtouren:

Cycling Aarhus, Frederiksgade 78

anschauen:

ARoS: Der regenbogenbunte Panoramarundgang des dänischen Künstlers Olafur Elíasson krönt das ARoS, eines der größten Museen für Gegenwartskunst in Nordeuropa. In 43 Metern Höhe blickt man durch buntes Plexiglas auf die Stadt.

Kunstmuseum ARoS in Aarhus, begehbarer Panoramaring auf dem Dach, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Kunstmuseum ARoS in Aarhus, begehbarer Panoramaring auf dem Dach, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

in den Berg gebautes modernes Moesgaard Museum in Aarhus: begehbares Dach, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

in den Berg gebautes modernes Moesgaard Museum in Aarhus: begehbares Dach, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

In den Berg hinein haben die Architekten das multimediale prähistorische Museum Moesgård MOMU gebaut. In Bildern. Installationen, Filmen und Computeranimationen reisen die Besucher in eine Steinzeitsiedlung. Hier erleben sie eine Schlacht und deren Folgen. Das begrünte weiße Museums-Dach ist Teil der Landschaft. Kulturzentrum Godsbanen (Alter Güterbahnhof): Skaterbahn, offene Werkstätten, Theater, Filmwerkstatt, Ausstellungen und viele weitere Kreativ-Räume beherbergt das „Kulturproductionscenter“ hinter dem ARoS. Der Club Radar  bietet zahlreiche Live-Konzerte und andere Gründe, die Nächte durch zu feiern. Godsbanen, Skovgaardsgade 3,

Auf dem Freigelände südlich des Godsbanen haben sich weitere Kreative angesiedelt. In und vor ihren Containern basteln sie an der Zukunft. Einer baut Schiffscontainer zu Wohnungen um, andere betreiben eine Holzwerkstatt, ein kleines Cafe, ein Restaurant …

Dokk1: Skandinaviens größte Bibliothek bietet in einem ehemaligen Hafendock einen Blick in die Zukunft: Digitale Medien in allen Variationen, elektronische Ausleihe, zahlreiche Veranstaltungen

Frauen-Museum: In wechselnden Ausstellungen befasst sich das Museum mit Leben und Rollen von Frauen in verschiedenen Epochen, mit Geschlechterrollen, Transgender und mehr, Domkirkepladsen 5

Besatzungsmuseum: Das von Freiwilligen im Keller des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers betriebene Besaettelsesmuseet gibt Einblick in den Alltag der Dänen unter derNazi-Besatzung 1940-45, erzählt von Widerstandskämpfern, Kollaborateuren, alliierten Luftangriffen, und dem Terror der Besatzer, Mathilde Fibigers Have 2

Neubaugebiet Aarhus Ö im ehemaligen Containerhafen in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Neubaugebiet Aarhus Ö im ehemaligen Containerhafen in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Psychiatrie-Museum: In den Räumen einer 1852 erbauten „Irrenanstalt“ erzählt das Ovartaci-Museum die Geschichte der Pychiatrie nicht nur in Dänemark. Zu sehen sind zahlreiche Gemälde und andere Kunstwerke „psychisch kranker“ Menschen und im Keller an die 10.000 Gehirne, die die Ärzte verstorbenen Patienten bis 1982 zu Forschungszwecken entnommen haben. Skovagervej 2 in Risskov

Seefahrtsmuseum: Ehrenamtler sammeln alte Schiffe, Modelle, Bücher, Seekarten und mehr, sogar die Barkasse Jacob von 1943 – das letzte noch seetaugliche Schiff, das an der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 teilgenommen hat.

Café und Rösterei Great Coffee in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Café und Rösterei Great Coffee in Aarhus, 24.8.2016, Foto: Robert B. Fishman

Café: angeblich der beste Kaffee der Stadt vom dänischen Barista-Meister Sören Stiller-Markussen gibt es im Great Coffee.

Fairbar: Das Personal arbeitet ehrenamtlich. Die Einnahmen fließen an humanitäre Projekte. Abends gibt es oft Live-Konzerte oder offene Abende, an denen die Bühne allen offen steht, die etwas vortragen möchten, Nørre Allé 66

Feiern:

Musikbar Headquarters: Clubbing, Livemusik und Open-Mike-Abende, Valdemarsgade 1, gegenüber dem Musikhaus am ARoS

Latin Quarter: einige Straßenzüge zwischen typisch dänischen bunt angestrichenen Altbauten, voll mit Kneipen und Bars. Hotspot ist die Mejlgade.

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