A Lullaby to the Sorrowful Mystery

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A Lullaby to the Sorrowful Mystery

5Drama

Lav Diaz‘ kolossaler Historienwälzer spricht in einer Szene die enigmatische Dimension des Kinos an. Es sei wie eine greifbare Illusion, sagt einer der Charaktere, eine alternative Realität. In eine solche will der philippinische Regisseur mit seiner 8-stündigen Vergangenheitsbewältigung ziehen.

Das Handlungsjahr 1896 liegt kurz nach der Uraufführung des Cinematographe Lumiere, den einer der Protagonisten vorführt. Seine Gäste ergreifen, überwältigt von der Neuartigkeit und Originalität der Bilder des Films, im Film die Flucht. Überwältigt sind auch die Zuschauer, allerdings eher von der titanischen Behäbigkeit des Geschauten. Es ist eine dunkle, gravitätische Meditation über Sinn und Wahnsinn von Revolution. Sie flammte Ende des 19. Jahrhundert auf den Philippinen gegen die spanischen Kolonialherren auf, entzündet von Andrés Bonifacio. Das ideologische Vermächtnis des Revolutionshelden treibt die Protagonisten an.

Seine Witwe Oryang (Hazel Orencio), der Revolutionsschüler Isagani (John Lloyd Cruzi), dessen Freund Basilio (Sid Lucero) und die schöne Verräterin Cesaria (Alessandra De Rossi) wandern wie Geister durch ein schwarz-weißes Zwischenreich, wo Fabelwesen und verlorene Seelen aufeinander treffen. Oft haben die Sets etwas von Pappmaché und es wabbert zuviel Trockennebel, doch immer wieder trifft Diaz einen unvermittelt mit visueller Poesie. Um sechs oder vier Stunden gekürzt wäre A Lullaby to the Sorrowful Mystery womöglich ein Kunstwerk, so ist er eher Kunsthandwerk. Das fordert seinen Tribut an der Zuschauerzahl. Zu Beginn der Pause sind mehr im Saal als danach. Einige blieben wohl nur bis zum Ende der ersten Hälfte, weil sie zum Aufbruch zu erschöpft waren – oder eingenickt.

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Die Verlockung ist groß, während 485 Minuten Laufzeit etwas von der auf Festivals notorisch knappen Nachtruhe nachzuholen. Der Titel wird Programm. Manche kuscheln sich in der zweiten Hälfte in die Jacken und lassen die Augen zufallen. Die leisen Vorgänge im Kinosaal sind oft interessanter als der unendlich zähe Plot. Ein wenig erinnert die Stimmung an Film-Marathons, nur verfolgen hier wenig begeisterte Fans das Geschehen. Einmal sagt ein spanischer Stadthalter, auf seine Kriegsverbrechen angesprochen: „Diese Dinge wurden von der Zeit und den Umständen gerechtfertigt.“ Es scheint, als wolle Diaz vermitteln, dass die angemessene Darstellung brutaler historischer Ereignisse extreme künstlerische Mittel erfordert.

Gewalt, heißt es, bekämpfe man mit Gewalt. Doch die Bildgewalt steht in keinem Verhältnis zu dem Gewaltakt, den es bedeutet, sich dem symbolschweren Epos auszuliefern. Spürt Diaz selbst das Erdrückende des Materials in dieser filmischen Form nicht oder ist die Zermürbung des Zuschauers Teil seines Konzepts? Diaz Evolution of a Filipino Family (2004) dauerte bereits 11 Stunden, Heremias (2006) und Death in the Land of Encantos (2007) je neun Stunden, sein letzter Langspielfilm From What Is Before (2014) über fünfeinhalb Stunden.

Das prometheische Filmtheater schaut man womöglich lieber in Einstunden-Teilen, ergänzt durch einen dicken Historienband. Wie es einmal heißt: „Das ist alles Teil der Geschichte.“ Und die ist noch lange nicht ausgefilmt. Vielleicht ist A Lullaby to the Sorrowful Mystery gegenüber Diaz nächstem Werk ja ein Kurzfilm.

Regie und Drehbuch: Lav Diaz, Darsteller: Piolo Pascual, John Lloyd Cruz, Hazel Orencio, Alessandra de Rossi, Bernardo Bernardo, Filmlänge: 485 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2016


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Autor

Lida Bach

 
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