Dieser #cablegate Coup von Wikileaks wirkt auf uns auch deshalb so stark, weil wir investigativen Journalismus nicht mehr gewohnt sind. Es ist eine Generation von Mainstreamjournalisten -und zwar vor allem in der Hauptstadt- herangewachsen, oder herangezogen worden, die Pressemitteilungen von Konzernen auf Webseiten kopiert. Das sind natürlich auch wir Leser schuld, denn wir geben immer weniger Geld für Zeitungen aus.
Doch ausgerechnet der Erfinder des (ursprünglich strategisch angelegten) Internets wird nun mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Herzlichen Glückwunsch an die -wie ich hoffe- Person Of The Year 2010, Julian Assange. Dieser Mann hat den Mächtigen den Einfluss auf die Nachrichtenlage aus der Hand geschlagen und sie denen zurückgegeben, die von ihr am meisten betroffenen sind: den regierten Bürgern.
Und es ist so typisch deutsch, dass es
a) lange dauert, bis wir in den Mainstreammedien etwas darüber hören oder sehen und
b) die Offenbarungen mit Klatsch-und Tratschpotenzial sind, die sie dann doch über den Äther senden.
Man musste sich gestern die Mühe machen, die englischsprachigen Zeitungen zu lesen, um etwas mehr Substanz zu finden.
Währenddessen präsentierte uns Anne Will eine Hand voll Unkundiger, die ohnehin ihre Köpfe "regelmäßig in die Glotze hängen" (W. Niedecken). Dort kommentierte der pseudoliberale Dirk Niebel die Enthüllungen mit einem Vokabular, dass wir anderweitig nur von Despoten aus Nordkorea, China oder Nordafrika kennen: Er nannte Wikileaks illegal und erhob alle Beteiligten in den Rang des "Unbedeutenden". Wenn es ihm oder seiner Klientel an den Kragen geht, denunziert er die Investigativen als Kriminell. Das war mit den CDROMS über die Steuerhinterzieher genau so. Nach seinem gestrigen Auftritt muss Sonnenbrillen- und Basecapträger Dirk Niebel seinen Rang eines Ministers eigentlich neu legitimieren.
Australien hat verkündet, dass Herr Assange per Haftbefehl gesucht wird und er sich im Lande nirgendwo verstecken könne. Das kennen wir wie gesagt von paranoiden Diktatoren. Ich jedenfalls würde Assange Asyl gewähren, weil er ab jetzt politisch verfolgt ist.
Die Enthüllungen über die deutschen Regierungspolitiker sind eigentlich keine. Da beglückwünsche ich Botschafter und Nachbar Murphy viel eher zu seiner Urteilskraft. Schön, solche offenen Worte zu lesen, die in jeder Talkshow als unkorrekt wegempört worden wären. Dass Westerwelle eitel, aufbrausend und ansonsten inkompetent ist, und dass es ihm nur um den verliehenen Status des Amtes geht, das wussten wir schon. Dass Merkel konservativ und unkreativ ist, und meist zögernd abwartet, wie sich die politischen Marktkräfte entwickeln, das wussten wir schon und trifft auf drei Viertel unseres Establishments zu. Eigentlich auch ein Skandal, dass sich tausende hochbezahlter Mitarbeiter mit solchen Katz-und-Maus-Spielen beschäftigen. Man könnte auch auf die Idee kommen, dass wir ein Auswärtiges Amt nicht mehr brauchen, und es wegrationalisieren können - mit Hilfe des Internets.
Für massiven Wirbel wird Wikileaks aber vermutlich im nahen Osten sorgen. Und natürlich in den USA selbst. Und das gönne ich der US-Regierung. Wikileaks hat für eine Art Waffengleichheit gesorgt, für Augenhöhe, löst sozusagen eine Verschwörung der Hoffnung aus (um an einen früheren Claim von Amnesty International zu erinnern). Wer meine Bankbewegungen, meine Fingerabdrücke, meine Vielfliegernummer und was sonst noch wissen will, von dem weiß ich nun, wie er über uns und die Welt denkt.
Wie infam der Ruf der Diplomatie, die Enthüllungen würden Menschenleben gefährden und hätten deshalb verhindert werden müssen. Wie so oft, wird auch hier der Übringer der schlechten Nachricht zum Abschuss frei gegeben, nicht der Urheber der Nachricht selbst. Sie, die das Internet benutzen, um uns zu beeinflussen und zu beherrschen, werden über das gleiche Medium nun selbst beherrscht. Wenigstens für einen Moment. Bis sie zurückschlagen und das Internet streng reglementieren und zensieren.
Um es mit Mark Zuckerberg zu sagen: Wenn Ihr nicht wollt, dass herauskommt, was Ihr tut, dann solltet Ihr es vielleicht gar nicht erst tun.
Die für Verschwörungstheoretiker so interessante Frage, ob man auf unserem Planeten ein wichtiges Geheimnis wirklich für längere Zeit geheim halten kann, ist jetzt mit Nein beantwortet.
What's next? Wir hatten bis jetzt Militär und Diplomatie. Zwei Instanzen, die von Daten und Informationen leben. Fehlt nur noch ein datensammelndes Unternehmen...