Oh, je. Eigentlich wollte der Dichter Thomas Kunst keine Sonette mehr schreiben. Doch als Instrument der „Ermüdung, Polemik und Ernüchterung“ konnte er nicht von ihnen lassen. Zum Glück für uns Leser, sein neuer Band „Legende vom Abholen“ (Edition Rugerup) besitzt Suchtpotenzial. „Diskurse nur von denen, die sehr schwache / Gedichte schreiben, ohne sich zu schonen, / Ich würde gerne gute Texte lesen.“
Offenbar wurde Kunst erhört, das Lyrikjahr 2011 begann hoffnungsvoll. Im Januar schaffte es der Band „Ein weltgewandtes Land“ von John Ashbery (Luxbooks) auf Platz 1 der renommierten SWR-Bestenliste; auch Jan Wagners „Australien“ (Berlin Verlag) und die von Michael Braun und Hans Thill herausgegebene Anthologie „Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts“ (Das Wunderhorn) kamen aufs Treppchen. Ein kleines Wunder in unseren romanfixierten Breiten. …
Daniela Seels Texte, vom Grafiker Andreas Töpfer berückend schön zwischen Buchdeckel gebracht, sind die Lyrik-Entdeckung der Saison – und weisen doch weit über den Tag hinaus.
Steht Seel erst am Anfang ihres Wegs, hat es die 1946 in Waynestville / Missouri geborene, mit Preisen überhäufte Mary Jo Bang bereits in den Dichter-Olymp geschafft. Der zweisprachige, vom US-Comic-Künstler Matt Kindt illustrierte Auswahlband „Eskapaden“ (Luxbooks), der Gedichte aus allen sechs bisher veröffentlichten Werken Bangs vereint, lässt ahnen, was die Kritiker von „New York Times“ bis zur „American Book Review“ aus dem Häuschen bringt: Für Bang wird das Gedicht zur Bühne. Schreiben als Kopftheater, in dem die Autorin alle Rollen gleich selbst spielt: Mickey Mouse, Dr. Freud, Cher. Ein einziges Wunderland:
„Alice kann nicht in einem Gedicht vorkommen, sagt sie, weil / Sie nur eine Metapher für Kindheit ist / Und ein Gedicht ist bereits eine Metapher“.
/ Nils Kahlefendt, Buchjournal