Die Kritiker der Popmusik sind leichthändig in der Lage, ganze Traditionsketten einzelner Riffs und überaus subtile Unterscheidungen von Milieu-, Zeit- und Epochenstilen aus dem Ärmel zu schütteln. Sie kennen sich aus in den Genealogien der Sounds, der Kompositionen und der Besetzungslisten. Und so sind nicht nur die Kritiker: Wenn irgendetwas die gegenwärtige Popmusik zu beseelen scheint, von Lenny Kravitz über Adele bis zu Kitty, Daisy & Lewis, ist es der Geist des Archivs. …
Aber wenn in der Literaturkritik ein Rezensent historische Linien zieht oder gar begrifflich argumentiert, mokiert sich darüber garantiert irgendjemand, bevorzugt in einem der großen Organe der Volksaufklärung. Und wenn eine Autorin wie Sibylle Lewitscharoff einen Roman wie ‘Blumenberg’ schreibt und darin erkennen lässt, dass sie nicht nur gern Umgang mit der Philosophie und der romantischen Literaturtradition pflegt, sondern sich darin auch auskennt, dann wird sie sofort, und mit tödlicher Sicherheit, dem Typus ‘hochliterarischer Liebling der Feuilleton-Germanisten akademischer Prägung’ zugerechnet.
Denn das Spiel mit den Traditionen der eigenen Kunst ist in der Musik, in der Malerei, im Theater erlaubt. Im Jazz ist es, im kreativen Umgang mit dem ‘standard’, sogar geboten. Aber wer einen lebendigen Umgang mit der Geschichte in der Literatur betreibt, dem wird von den Liebhabern der Authentizität und des Lebens gern das Etikett der ‘Literatur-Literatur’ angeheftet. Es wurde eigens erfunden, um eine Literatur, die zu erkennen gibt, dass sie weiß, was sie tut und woher sie kommt, zu brandmarken und in das Abseits der Weltuntauglichkeit zu stellen. Lady Gaga darf artifiziell sein, Sibylle Lewitscharoff nicht. / Thomas Steinfeld, Süddeutsche 17.9.