Beinahe wöchentlich stoße ich auf Artikel in Lokalausgaben von Regionalzeitungen aus Ost und West, die stolz vermelden, der heimatliche Autor / die Autorin XY sei „sogar schon in die Nationalbibliothek“ resp. Gedichtebibliothek resp. Frankfurter Bibliothek aufgenommen worden. Regelmäßig geben diese komplett ahnungslos-unkritisch die Selbstdarstellung dieser Unternehmungen wieder, die sich mit klangvollen Titeln (so die ursprüngliche „Nationalbibliothek des deutschsprachigen Gedichts“) und Namen (Clemens Brentano, Cornelia und August Goethe) und hehrer Programmatik schmücken, vorallem aber „edel“ und repräsentativ ausgestattet sind. Dick und teuer sowieso, richtig gediegen. Das ideale Weihnachtsgeschenk von Tante Mimi für die hoffnungsvolle Dichterin.
Die Märkische Allgemeine schreibt:
Ziel der Edition ist es, die lyrische Volkskultur für die Zukunft zu archivieren. Sie bietet einen repräsentativen Querschnitt gegenwärtiger deutscher Dichtung.
Diese Idee wurzelt in der Romantik, als man die „dichtende Volksseele“ noch als Spiegel der Gesamtkultur einer Gesellschaft begriff und Clemens Brentano, Luise Hensel und die Gebrüder Grimm im Volk Märchen und anderes Dichtgut sammelten und für die Nachwelt bewahrten. Im 20. Jahrhundert ideologisch missbraucht, machten die Frankfurter Initiatoren vor zehn Jahren einen neuen Anfang.
Folglich sind auch in dem seit 2000 erscheinenden Lyrikband „nicht vorrangig Werke der Hochliteratur versammelt, sondern Gedichte aus der Mitte unserer Gesellschaft, neben Spitzenleistungen also auch Gelegenheitsdichtungen, Verse aus dem Alltag“, erklären die Initiatoren. Die Jahresbände werden nicht nur als Nachschlagewerke von internationalen Staatsbibliotheken und literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen angekauft, sondern seien auch beim „Normalleser“ beliebt. … Die Bücher sind zudem sehr edel aufgemacht, in blaues Leinen gebunden, fadengeheftet und messinggeprägt. Der Jahresband 2010 war nach Angaben der Herausgeber noch vor Weihnachten komplett vergriffen. / Märkische Allgemeine Potsdam-Mittelmark
Ja, gut daß einige Forschungsbibliotheken die Trumms anschaffen. Ob sie für Volksseelen- oder kulturwissenschaftliche Forschung taugen? Ich hab da Zweifel (aber die Forscher werden sich finden). Aber welche Fundgrube für Literaturwissenschaftler, die nach pseudonym eingereichten Fakes oder Jugendtorheiten arrivierter Autoren fahnden (es gibt sie!). Andererseits hoffe ich sehr, daß die Universitätsbibliothek Greifswald das knappe Geld nicht für solchen Scheiß ausgibt (zu Preisen, für die man 4 bis 8 richtige Gedichtbände bekäme).
Daß solche Pressemeldungen immer wieder Anfänger (und vielleicht auch Bibliothekare) desorientieren … nun, das ist ja die Aufgabe der Presse.
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