Die neue „Volltext“-Ausgabe wartet mit einem Experiment auf, das auf die Enthierarchisierung des Literaturbetriebs zielt, im Grunde aber nur eine uralte Idee neu auflegt. Die Namen der Heft-Autoren sind nämlich anonymisiert, um die Aufmerksamkeit ganz auf den Inhalt und den stilistischen Habitus der einzelnen Beiträge zu lenken. Die Sabotage am eitlen Autorenkult ist jedoch nur halbherzig durchgeführt, denn wer die Autorennamen erfahren will, braucht nur die Internet-Seite von „Volltext“ aufzurufen. Das biedere Anonymus-Spiel sollte uns daher nicht weiter beschäftigen, dafür aber die durchweg von Schriftstellern verfassten Kritiken in dieser Ausgabe.
Volltext Nr. 3/2011
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien. 48 Seiten, 2,90 Euro.
Die Dichterin Sylvia Geist folgt in ihrem Essay „Das Aber der Aprikosen“ den Spuren der Konjunktion „Aber“ vom Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm bis hin zur Weltdichtung Inger Christensens. Hier isst ein sehr poetischer, auch in seiner Vielgestaltigkeit großartiger Essay entstanden, der ein kleines Wort in seiner äußeren Gestalt wie auch in seinen inneren Hallräumen und Konnotationen prüft.
Solche mikroskopischen Untersuchungen an unscheinbaren Wörtern oder Naturphänomenen sind in der deutschen Essayistik selten geworden.
Edit Nr. 56,
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig. 130 Seiten, 5 Euro.
Der Spatz sei ein Räuber, ein Nahrungskonkurrent des Menschen, er sei auch der Unkeuschheit überführt, zudem strapaziere er uns durch seinen ohrenbeleidigenden Gesang. Die Beliebtheit dieser Vögel ohne jeden prachtvollen Federschmuck ist denkbar gering. Einzig die Dichtung weiß den grauen Vogel, der uns seit der Jungsteinzeit begleitet, noch zu würdigen. Etwa Durs Grünbein in seinem schönen Gedicht „Noch eine Regung“: „Grüß dich, Sperling in der Pfütze, guter Geist, / Da am Wegrand badend, immerfort gehetzt. / Weißt ja längst, was demnächst jeder weiß, / Deine Regenfrische sagts. – Ich übersetze: / Tschilp, tschilp, wie fragil ist dies fossile, / Euer Monstrum, tschilp, Gesellschaft doch.“
Lettre International 94
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 140 Seiten, 11 Euro.
Der zweite Grenzüberschreiter in „Am Erker“ ist ein wuchtiger Außenseiter der späten DDR-Literatur, der früh gestorbene Punk-Poet „Matthias“ BAADER Holst. Der einst aus Halle an den Prenzlauer Berg gekommene Autor musste in seinem schmalen Werk immer besonders dick auftragen, um in seiner Exzentrik bemerkt zu werden. In seinem Text „viel spaß auf der titanic“ hat Holst seinen Platz in der Literaturgeschichte anvisiert: „ich halte dir einen platz frei in der weltgeschichte vielleicht zwischen beowulf und brechreiz vielleicht zwischen benn und bethlehem vielleicht in der straßenbahn“. Bei Benn und Bethlehem war dann doch kein Platz mehr frei. Eine Straßenbahn wurde ihm zum Verhängnis. Ende Juni 1990 wurde BAADER Holst in der Oranienburger Straße in Berlin unter nie geklärten Umständen von einer Straßenbahn angefahren und erlag eine Woche später seinen Verletzungen.
Am Erker 61
c/o Frank Lingnau, Rudolfstr. 8, 48145 Münster. 160 Seiten, 9 Euro.
/ Michael Braun, Poetenladen