Noch einmal wird hier die vergangene Symbolik des sozialistischen Jahrhunderts ausgekostet und die Geliebte als Trösterin und Heizung: „Hab ich dich federnd aufgefangen/ Wie eine Flocke mit dem Mund? Das Licht lag weiß auf deinen Wangen./ So still die Nacht, so weich und rund.“ Das mag gesungen noch angehen.
Dass wir uns nicht falsch verstehen, Wenzel ist bestimmt kein Anhänger einer der Doktrinen des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Formensprache orientiert sich eher an Wilhelm Müllers Winterreise als am Kampflied a la Erich Weinerts Roter Wedding. Bei Müller heißt es: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ bei Wenzel: “Ich fühl mich in der Fremde/ als wäre ich zu Haus.“ Und dieser zutiefst romantische Topos („Kein Ort. Nirgends“) wird zugleich im Eingangsgedicht vorgestellt.
Aber um dieses Fremde zu belegen, wird im Bande alles zitiert, was es an Schlechtigkeiten im letzten Jahrhundert so gab: Krieg, Bürgerkrieg, Fernsehen, Konsum. Pate stehen verwundete und ermordete Dichter wie Lorca. „Das Gift der Vergangenheit/ unschädlich machen, Frederico, gelingt nicht.“
Und genau hier liegt das Problem, wenn man mal das Pathos der Genitivkonstruktion herausnimmt. Es gelingt Wenzel nicht, die Vergangenheit unschädlich zu machen. Aber wäre nicht genau das eben Befreiung? Sonst nämlich bewegen wir uns in den Netzen der Melancholie, bleiben Gefangene unserer eigenen Geschichte, die wir dann notwendig als Heilsgeschichte (oder Untergangsgeschichte, immer aber mit hegelschem Ende) verklären müssen. Und so bleiben seine Texte seltsam konservativ.
Nach einer Weile CD und Lektüre musste ich Pause machen, so bittersüß die Erinnerungen auch waren, ich war ein wenig genervt, von mir als jungem Mann, von Wenzel, von der Geschichte. / Jan Kuhlbrodt, fixpoetry
Hans-Eckardt Wenzel: „Seit ich am Meer bin“, Gedichte, Matrosenblau Verlag 2011, 104 S., 18 Euro