9. November 1989

9. November 1989Es ist Donnerstagabend. Wie immer sitze ich nach Feierabend vor der Glotze. Im Gegensatz zu vielen anderen wehre ich mich noch gegen Satelliten TV und habe deswegen lediglich drei Programme. Auf allen wird nur über die Grenzöffnung und die daraus enstehende Histerie und Freude geredet. Ich bin an diesem Abend komplett unbeeindruckt, denn was habe ich mit der DDR zu tun? Nichts. Ich bin erst 1964 geboren. Meine Eltern sind zwar echte Berliner aus Pankow (Mutter) und Friedrichshain (Vater), aber zur Welt gekommen bin ich in Uelzen, bei meinen Großeltern, kurz bevor ich nach Marburg umgesiedelt wurde. Ich weiß noch, dass ich dachte, „siehste, es geht auch ohne Gewalt!“, aber mir war auch klar, dass es ohne Gorbatschov blutig geworden wäre.

Zwei Tage später fahre ich zu meinem besten Freund nach Eschwege, was ehemals an der innerdeutschen Grenze lag und wir machten uns auf nach Erfurt, welches nur einen Katzensprung weit entfernt war. Auf dem Marktplatz herrschte Volksfeststimmung und die Menschen strömten wie Lemminge durch die Stadt, natürlich Wessis, so wie wir. Ich probierte meine erste echte Thüringer Rossbratwurst. Ein Disaster. Völlig ungenießbar. Dann eben ins beste Haus der Stadt. Zuvor wurde uns die D-Mark im Kurs 1 : 9 vor der Kirche getauscht. Wir bestellten irgendein Fleisch mit Leipziger Allerlei und Salat. Die Menschen aus dem Osten wissen sicher was dieses Traditionsessen bedeutet und wie es gemacht wird. Bei uns waren es Erbsen und Möhren aus der Dose, komplett verkocht. Dann bleiben wir eben hungrig, was solls.

Damals war unser Sohn erst 11 Monate alt, also hatte er seinerseits keine Beziehung zum Osten der Republik, oder viel mehr, es gab für ihn keinen Osten, nur Deutschland. In den kommenden Jahren war ich häufiger in Ostdeutschland und war schockiert. Die Gebäude in kleinen Ortschaften wiesen zum Teil noch Beschüsse des zweiten Weltkrieges auf, ich fuhr auf alten Panzerstraßen mit Löchern, welche so groß waren, dass fast ein Trabbi reingepasst hätte. Dresden war eine Dauerbaustelle und überall wo Industrie angesiedelt war, gab es keine grünen Landschaften, nur Grautöne. Die Autobahnen waren keine und die Menschen machten mangels Arbeit Videotheken und Grillstände auf, überall. An diesem Silvester 1989 saß ich mit meinem Freund um 4 Uhr morgens auf einen Absacker am Tisch und seine Mutter fragte mich, ob ich die Öffnung der Mauer auch so begeistert empfunden hätte. Ich war immer schonungslos ehrlich und antwortete.

„Ich kann verstehen, dass es hier Volksfeste gibt (in Eschwege, und für alle Bürger des Ostens waren Essen, Getränke und Tanken frei), aber der Fall der Mauer und die angestrebte Wiedervereinigung wird noch vielen Menschen sehr leid tun!“ Die Mutter meines Freundes war erschrocken und lief rot an, aber sie rang nach Luft und fragte wieso. „Weil es ein Unding ist, einen insolventen Staat zu übernehmen, die Menschen ins Nichts zu entlassen, ihnen das Blaue vom Himmel herunter zu versprechen und gleichzeitig Russland auszubezahlen!“ Denn das war die Bedingung von Gorbatschow an seinen Spezi Kohl, der niemals hart verhandeln musste, um die Einheit zu gewährleisten. Gorbatschow bot ihm den Osten selber an. Aber gut und oft wiederholte Lügen prägen sich offenbar tief ins Deutsche Bewußtsein ein. Er war für mich nie der Vereinigungskanzler, sondern nur ein Politiker der seine Macht ausspielte um weiter am Drücker zu bleiben, denn sein Stern ging bereits unter als die Mauer fiel, und nur die ostdeutschen Wähler haben ihm den Arsch gerettet, was sie bitter bereuen sollten, weil Kohl die Sahnestückchen an die Deutsche Industrie verscherbelte, so wie die Treuhand alle Lasten tragen musste, nur damit einige wenige Nutzniesser Millionen abschöpfen konnten. Übrigens versank Eschwege wenige Jahre später im schwarzen Loch, denn die Fördergelder des Zonenrandgebietes fielen weg oder wurden eben verlegt, auf die andere Seite des jetzt unsichtbaren Zaunes.

Wenige Jahre später war es für mich nicht mehr möglich ostdeutschen Auswanderern zu helfen, ob bei Behörden, Versicherungen oder Käufen. Sie waren über die Maßen misstrauisch geworden und wurden doch immer wieder über den Tisch gezogen, ganz ohne Scharm. Als ich viele Jahre später wieder nach Ostdeutschland fuhr, jetzt auch privat, hatte sich das Gesicht dieses Teils der Republik dramatisch verändert. Die Häuser oft gut hergerichtet (sicher nicht alles mit Hilfsgeldern, sondern auch, weil man es schön haben wollte), die Straßen in perfektem Zustand und die Großstädte in neuem Glanz. Jetzt merkte man auf dem Rückweg, wann der Westen begann, nämlich wenn die Buckelpisten anfingen.

Es folgten viele Grausamkeiten für viele Deutsche. Eine davon war und ist Hartz IV, eine Maßnahme, um schneller Langzeitarbeitslose loszuwerden, die auch noch nicht jahrzehnte in die Sozialsysteme eingezahlt hatten. Nur sagen durfte das niemand in Berlin, denn die Feindseligkeit, welche von Politikern unbedacht unters gesamte Volk geworfen worden war, führte letztendlich zu dauerhaften Grabenkämpfen zwischen West und Ost. Wohlgemerkt, nur die Generation, welche in den 60er und 70er Jahren geboren wurde, und denen die DDR nicht mehr bedeutete als jedes andere Land in Europa. Und so ist es bis heute geblieben. Im Osten sitzen die Nazis, im Osten wird die Demokratie mit Füßen getreten, im Osten sitzen Faule, Unzufriedene oder Radikale, doch gemacht werden diese kleinen Grupen aus dem Westen, weil es in den Zeitgeist passt, weil es einfacher ist als Realpolitik zu machen, weil die Menschen darauf anspringen!

Und heute? Ich habe heute nichts zu feiern, denn ich habe die Mauer nicht gebaut, nicht abgerissen, nicht dahinter gelebt oder gekämpft. Doch ich sollte mich über die Wiedervereinigung eines einst sehr starken Deutschen Volkes freuen, oder? Welche Wiedervereinigung denn? Es gibt keine, bis alle Betonköpfe auf beiden Seiten ins Gras gebissen haben, denn dann sind endlich alle gleich und die DDR wird dann im Geschichtsunterricht genauso totgeschwiegen, wie zu meiner Zeit das dritte Reich. Das sind natürlich alles nur meine persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen, aber sehr oft habe ich nicht in meinem Leben falsch gelegen. Vieles ist falsch gelaufen. Manches mit Gewinnabsicht aus niederen Beweggründen, manches, weil es keine Blaupausen gibt, wenn zwei Staaten fusionieren, doch letztendlich liegt es an jedem selbst, ob er einem difusen Gegenüber Negatives anlastet oder entgegen bringt, oder ob man mit freiem Geist und offenen Armen vor sein Haus tritt, egal was in Berlin erzählt wird, denn jeder hat einen eigenen Kopf zum Denken, selbst ich.

Ihr, Arno von Rosen …


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