9. April 2012, Über Marie Sertuno, Onkel Alphonse, auch noch über den Friedhof der zukünftig Toten, 7.40 Uhr

Von Guidorohm

Diese dort, so zeigte man mir mit Kuchen im Mund, während ich die Kaffeetasse hob, diese dort, wir befinden uns, Sie ahnen es vielleicht, auf dem bereits im gestrigen Tagebucheintrag angekündigten Familientreffen, diese dort sei, sagte man, nicht irgendwer sagte das, sondern Onkel Alphonse, der Onkel Alphonse, der, so erklärte man mir später mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Nicken, mit unzähligen bunten Luftballons von Rom nach Kapstadt geflogen sei, nie gehört, antwortete ich, Schritt für Schritt beim Spaziergang setzend, denn man berichtete mir von Onkel Alphonse und seinen Flugabenteuern beim jährlichen traditionellen Gang zum Friedhof, der uns, ich werde Ihnen da noch ein Bild nachreichen müssen, eine Überraschung offenbarte, denn wir gingen auf einen Friedhof der besonderen Art, auf dem die Toten liegen (oder bald liegen), deren Todesdatum in der Zukunft liegt, die also noch unter uns weilen, lachend und Kuchen essend und Geschichten erzählend, von denen man aber schon genau weiß, wann sie unter die Erde kommen werden, arme Schweine, dachte ich, während wir zum Friedhof liefen und man mir von Onkel Alphonse und seinem Flug erzählte, eben jenem Onkel Alphonse, der mir am Kaffeetisch von der Dame berichtete, von der ich eingangs und ursprünglich erzählen wollte, nur abgelenkt von den Nebensächlichkeiten des Erzählstrangs, den ich hier an dieser Stelle aufnehmend, mit den Worten weiterlaufen lassen will, wie mir Onkel Alphonse von einer Dame am Kopfende berichtete, die sich Marie Sertuno nennt, die sich natürlich nicht nur so nennt, sondern die tatsächlich auch so heißt, eigentlich nicht, sagte Onkel Alphonse, eigentlich war ihr Name Karin Nagemüller, aber sie benannte sich in den fünfziger Jahren um, ja warum denn das?, ich solle ihn aussprechen lassen!, bellte Onkel Alphonse mich an, so könne er nicht bis zum Ende denken, er würde die ganzen Worte verlieren, sagte Onkel Alphonse, sich unter den Tisch bückend und etwas aufhebend, vom dem er später, da verabschiedeten wir uns längst, behauptete, es seien einzelne Wörter gewesen, die nötig für seine Geschichte über Marie Sertuno gewesen seien, die aber durcheinander in seiner Hand gelandet, den Sinn seiner Geschichte entstellt hätten, die keine Geschichte gewesen sei, sondern die reinste Wahrheit und nichts als die Wahrheit, sagte Onkel Alphonse, der einen Hut trug, der an einen Wasserbüffelkopf erinnerte, ein großer merkwürdiger Hut, der mich von der Seite ansah und blinzelte und später, da ging Onkel Alphonse bereits, auch, ich versichere es Ihnen bei meinem Leben, gähnte, ich war mir sicher, derartiges gesehen zu haben, aber der Rest der Familie stritt es ab, sodass ich schließlich stumm blieb und nichts zum Fall mit dem blinzelnden Hut mehr beitrug, denn ich wollte ja nicht als Verrückter abgestempelt werden, zumal der Tag vorbei und ich alle erst beim Weihnachtsfest wiedersehen würde, sicherlich auch Marie Sertuno, von der Onkel Alphonse erzählte, sie sei in den fünfziger Jahren eine berühmte Darstellerin in Horrorfilmen gewesen, und wenn auch nicht berühmt, so wäre sie doch aber berüchtigt gewesen, Kinski, Sie kennen doch Kinski?, hatte Onkel Alphonse gefragt, sich dabei ein Kuchenstück in den Mund geschoben, jaja!, also, Kinski hat über sie gesagt, sie sei der leibhaftige Tod, der versucht habe, sich als Dame zu verkleiden, sagte Onkel Alphonse und kicherte dabei, Kuchenbrösel spritzten aus seinem Mund und mir ins Gesicht, während ich mir die Dame ansah, über die er sprach und die alt und verfallen und mit einem Buckel ausgestattet auf ihrem Platz saß und kein Wort sprach, die, so Onkel Alphonse, in Filmen wie, das berittene Grauen, wir kommen um halb Fünf und schlachten euch um halb Sechs gespielt habe, Filme, die längst vergessen seien, so wie sie, Marie Sertuno, aber jetzt, sagte Onkel Alphonse und stieß mich in die Seite, jetzt wollen wir zum Friedhof derer, die noch nicht gestorben sind, ich sah ihn verwirrt an, gehorchte aber, stand auf und trottete der Familie hinterher, hin zum Friedhof, von dem ich Ihnen noch ein Bild nachliefern werde, denn auf so einen Friedhof kommt man nicht alle Tage und ist man dort, sollte man Sorge tragen, zu überprüfen, ob man Gast oder Bewohner ist, denn, so Onkel Alphonse kichernd und noch immer Kuchenbrösel verspritzend, stellen die Toten hier fest, dass man zu ihnen gehört, dann lassen sie einen nicht mehr fort, nein, nein, Sie lassen einen einfach nicht mehr fort.