88. «vor, / vor dem Wort»

Von Lnpoe

Wer Mario Luzi (1914–2005) in seinen späten Jahren noch erlebt hat, wird sich an seine hagere Gestalt erinnern, an das markante Profil, die lebhaften Augen und daran, wie er mit leiser, manchmal brüchiger Stimme seine Gedichte vortrug. Oft stieg die Spannung von Vers zu Vers. «Innen, in den Äderungen. / Eingedrungen / ihnen entlang, / eingetreten / in die Risse / und in die Spalten / ganz drin, explodiert / dort, im Felsen, / in der Substanz – / so waren sie Worte», so beginnt ein Text in der Übersetzung von Guido Schmidlin aus dem Band «Themen und Motive eines heiligen Gesangs» von 1990. Diese Worte, parole, heisst es weiter, wurden zu Sprachen, zu Nationen, sickerten dann in die Wurzeln und Wurzelfasern «bis zum unbestimmten Schlamm / zum noch nicht ausgesprochenen, / stummen Fatum – vor, / vor dem Wort». / Maike Albath, NZZ 9.3.

Mario Luzi: Auf unsichtbarem Grunde. Gedichte. Aus dem Italienischen von Guido Schmidlin. Hanser-Verlag, München 2010. 328 S., Fr. 29.90.