Von hüben nach drüben – ein Risiko für alle Beteiligten
Was ist die Motivation für die Fluchthilfe im großen Stil?
Am 18. Dezember 1966 beginnt für den jungen Max Weidendorf so etwas wie ein neues Leben: Der 21-Jährige tritt in Berlin eine Stelle als Leiter der Alliierten-Wohnungen in der Zehlendorfer Siedlung OnkelToms Hütte an. Das Viertel ist von den US-Streitkräften besetzt, amerikanische Soldaten und ihre Familien sind von nun an seine Kunden. Zum Job gehören außer dem Monatsgehalt von 3.000 DM eine große, moderne Dienstwohnung und ein Dienstwagen. Seine Frau Carola bekommt ebenfalls eine Stelle. Doch Max weiß schon an seinem ersten Arbeitstag, dass ihm das auf Dauer nicht reicht: Er will einmal richtig viel Geld verdienen. Dieses Ziel steht für ihn über allen anderen. Schon Tage später „erweitert“ Max seine Arbeit um neue Betätigungsfelder: Er vermittelt Autos an US-Soldaten und verhökert US-Ware. Das bringt schon in den ersten beiden Wochen in der „Onkel Tom“ 2.500 D-Mark ein. Max hat Blut geleckt.
Max‘ „Karriere“ als Fluchthelfer beginnt durch einen Zufall
Als eine der Wohnungen am nächsten Tag neu vergeben werden soll, der Vormieter aber den Schlüssel nicht abgegeben hat, muss ein Handwerker kommen, um das Problem zu beheben. Es erscheint Lutz. Er bohrt das Schloss auf, weigert sich aber, sich um einen weiteren Schaden zu kommen. Es ist Freitag, und Lutz hat eine Einreiseerlaubnis zu seiner Tante in Ost-Berlin. Tatsächlich will er in Ost-Berlin seine Freundin Julia besuchen, die nur bis Sonntag Zeit hat. Der mit Max befreundete Soldat Frank Miller spricht aus, was den Anstoß für alles Weitere gibt: „Warum holen wir das Fraulein nicht rüber?“, fragt er in gebrochenem Deutsch. Der Transfer ist sehr einfach: Zwischen West- und Ost-Berlin gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Kontrollen für die Fahrzeuge der drei westlichen Besatzungsmächte. Doch auch, was zunächst so simpel aussieht, muss sorgfältig geplant werden. Julias Einstieg in einen Jeep der US-Army darf niemandem auffallen, und die geliehene Uniform muss Max tadellos passen. Eigentlich war diese Aktion nur als Testlauf gedacht, doch Julia beschließt, im Westen zu bleiben. Für diesen Transfer verlangt Max noch keine Bezahlung. Durch einen weiteren Zufall kommt es zur nächsten Fluchthilfe, bei der es nun auch um Geld geht. Ilse Barnick will zusammen mit ihrem Sohn aus Ost-Berlin flüchten. Von ihrem geschiedenen Mann weiß Max, dass die Frau „Judengold“ besitzt, das von einem SS-Sturmbannführer stammt. Mit dem Gold kann sie in der DDR nichts anfangen, aber sie kann damit Max für seine Fluchthilfe bezahlen. Die Fluchthilfe gelingt, vom Gold ist anschließend keine Rede mehr. Max geht leer aus. Doch Schaden macht klug: Er lernt aus jedem Fehler und perfektioniert sein System so erfolgreich, an dem sich immer mehr Menschen, darunter einige US-Soldaten, beteiligen, dass die Fluchthilfe seine Haupteinnahmequelle wird. Die Arbeit als Hausverwalter erledigt er nebenbei und mit der Hilfe seiner Frau.Max erreichen immer mehr Hinweise auf Menschen, die die DDR verlassen wollen. Ganz überwiegend sind es solche, die über eine akademische Ausbildung und Berufserfahrung verfügen: Ärzte und Ingenieure sind darunter, die im Westen ihr Glück finden und eine Zukunft in Freiheit haben wollen. Max bekommt eine erste Warnung der CIA, sich künftig nicht mehr der Hilfe von Mitgliedern der amerikanischen Streitkräfte zu bedienen – und ignoriert sie. Es läuft gerade einfach zu gut für ihn: Mit seiner Fluchthilfe will er einerseits unzufriedenen DDR-Bürgern zu einem besseren Leben im Westen verhelfen, andererseits aber auch Geld verdienen. Es dauert nicht lange, bis er pro erfolgreichem Transfer fünfstellige Beträge verlangt, die auch in Raten abbezahlt werden können. Carola sieht die Geschäfte ihres Mannes zwiespältig: Einerseits hat sie Angst vor den möglichen Konsequenzen, andererseits übernimmt sie ab 1968 die Buchführung und nimmt sich dafür aus dem häuslichen Tresor monatlich 1.000 DM zu ihrer freien Verfügung. In der ersten Hälfte des Jahres 1968 macht Max mit der Fluchthilfe sowie dem Handel mit Autos und US-Waren einen Gewinn von 93.000 DM. Doch im Laufe der Zeit werden sich die Eheleute zunehmend fremd, was nicht ohne Folgen bleiben soll.
Keine Flucht bleibt unbemerkt
Der spürbare Abgang von Bürgern ist natürlich auch der Staatssicherheit der DDR ein Dorn im Auge. Max fühlt sich zunächst zwar verfolgt, aber es ist nicht mehr als ein vages Gefühl, für das es keine Belege gibt. Doch im Oktober 1971 wird eine Prostituierte ermordet aufgefunden, bei der Max Stammgast gewesen ist. Mit ihr wurde ein Freier ermordet, der kurzfristig den ansonsten für Max reservierten Termin bekommen hat. Max hat zum ersten Mal Angst und legt sich eine Pistole zu. Auch Carola hat jetzt manchmal den Eindruck, verfolgt zu werden.Mit dem ab Juni 1972 gültigen Reiseabkommen zwischen der BRD und der DDR öffnet sich für Max und seinen immer größeren Helferkreis eine neue Tür: Westdeutsche können nun ohne große Probleme nach Ost-Berlin und in die DDR reisen. Max weitet das Geschäft aus und wird dabei immer professioneller. Nur sehr selten fliegt eine Flucht auf. Er erfährt allerdings zu spät vom Plan seines Bruders Manni, einer jungen Frau und ihrem Kind zur Flucht zu verhelfen. Mannis dilettantische Aktion fliegt auf, er wird verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Max wird den Verdacht nicht los, dass sein Bruder ein Stück weit für ihn mit büßen soll.Max‘ Team arbeitet später mit gefälschten Fahrbefehlen der US-Army und immer neuen trickreich umgebauten Fluchtfahrzeugen. Da findet Max Ende April 1972 den Mechaniker Jupp erhängt in seinem Haus auf; den Mann, der durch seinen Einfallsreichtum und seine handwerklichen Fähigkeiten aus einem normalen Fahrzeug ein ausgetüfteltes Fluchtfahrzeug machen konnte und so entscheidend zum Erfolg der Fluchthilfeaktionen beigetragen hat. Ein Selbstmord kann ausgeschlossen werden: Seine Hände sind ihm vor seinem Bauch zusammengebunden worden. Die beängstigenden Erlebnisse häufen sich, und Max beschließt, die Fluchthilfe nicht mehr selbst durchzuführen, sondern sie nur aus der Ferne noch zu leiten. Mit Carola und seinen 1968 und 1970 geborenen Söhnen zieht er an die Ostsee nach Kellinghusen. Dort, so denkt er, wird ihn die Stasi sicher in Ruhe lassen. Max trägt ab sofort vom Aufstehen bis zum Schlafengehen eine schusssichere Weste. Aber er soll merken, dass er sich in der Stasi entschieden geirrt hat: Sie beginnt, sich noch mehr für ihn zu interessieren, als er eine neue Fluchtroute über die österreichisch-ungarische Grenze zu nutzen beginnt.
Ein Vermächtnis
Jürgen Weiske, ein Freund Kay Mierendorffs und Herausgeber dieses Buches, sorgte auf dessen Wunsch dafür, dass seine Erlebnisse in einem Roman aufgearbeitet wurden. Das Erscheinen von Der Wels – Freiheit oder Diktatur im Herbst 2016 hat Mierendorff nicht mehr erlebt: Er starb bereits vier Jahre zuvor an Krebs. Das Buch trägt die Widmung „gewidmet all jenen, die es nicht geschafft haben“. Es lehnt sich trotz seiner fiktiven Elemente so stark an das von Mierendorff Erlebte an, dass es starke autobiographische Züge hat. Hans-Gerd Pyka hat auf dieser Grundlage einen spannenden Roman vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte zu Zeiten des Kalten Krieges geschaffen, der durch immer wieder eingestreute Hinweise auf das damalige politische Geschehen eine große Authentizität hat.
Der Wels – Freiheit oder Diktatur ist bei epubli erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 25,99 € sowie als Kindle- oder epub-Edition 9,99 €