Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector (1920–1977) war eines der stärksten und vielseitigsten Talente der südamerikanischen Erzählliteratur. Zu Lebzeiten als Ikone der Moderne gerühmt und als Feministin vereinnahmt, ist sie heute nur noch ein Geheimtipp. Eine Wiederentdeckung tut dringend not, meint Felix Philipp Ingold in der NZZ:
Ebenso eigenartig, ja einzigartig wie die erratische Sprachform und die abrupte Erzählweise ist das literarische Weltbild, das sich in die Lispectorschen Texte eingezeichnet findet. Dieses kabbalistisch anmutende Weltbild ist dominiert von der Bipolarität Ich/Gott, die aber nicht auf punktueller Gegenüberstellung beruht, die vielmehr als ein wechselseitiges Ineinanderfliessen vorgeführt wird, bei dem alles mit allem gleichrangig zu korrespondieren scheint. So wie «Gott» alles und zugleich eins ist, nämlich identisch mit der Gesamtheit der Ding- und Sprachwelt, ist «Ich» zugleich jemand selbst und alle andern, zu fassen nur in seiner Unfassbarkeit als Mann/Frau, Mensch/Tier, Leib/Wort, Person/Name, Individuum/Kollektiv. Die Dialektik des Entweder-oder löst sich auf im Sowohl-als-auch gleichgültiger (heisst: gleichermassen gültiger) Multioptionalität, die zuletzt auch grosse Antagonismen wie Liebe/Hass, Lust/Schmerz, Glauben/Wissen sich verflüchtigen lässt.
Als Zugabe ein Gedicht der Autorin
(Die Neue Zürcher beweist auch in diesem Fall ihre Welthaltigkeit. 2002 las ich da: «Ich schreibe Gedichte, nicht um Dichter zu werden, sondern um meine Seele zu üben» nzz 9.2.02)