86. Jakobinerin mit Einkaufstasche

Von Lnpoe

Trotz der Präzision, mit der Merz die Wörter setzt, bleiben seine Texte offen: Sie sind einfach und klar, zugleich rätselhaft und poetisch. Nachzulesen jetzt in den ersten drei Bänden einer auf sieben Bände geplanten Werkausgabe im Haymon-Verlag, herausgegeben von Markus Bundi. Der erste Band heißt “Die Lamellen stehen offen”, im Untertitel “Frühe Lyrik 1963-91″. Donnerwetter, denkt man, Merz schrieb fast 30 Jahre lang “frühe Lyrik”!

War er 1963, mit 18, ein junger Autor, war er es mit 46 immer noch. Aber so absurd rechnet der Literaturbetrieb ja. Bis 50 gilt man als “jung”, zehn Jahre später beginnt das “Alterswerk”. …

Die ersten drei Bände der Werkausgabe haben zusammen rund 850 Seiten. Vier weitere werden folgen, die auch späte Prosa und Lyrik, Romane, Essays und Texte zur Kunst enthalten. Ein Fest für Merz-Leser, jedoch kaum für Germanisten.

Autor, Herausgeber und Verlag entschieden sich für eine reine Leseausgabe, die auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet. Die Texte in den drei gelben Bänden sprechen für sich – und das passt zu ihrem Autor, diesem Enkel Flauberts, dem Wahrnehmung und ihre Umformung in Schrift alles ist:

“Über die Baulücken zieht blauer Himmel, die Schönheit der Brandmauern tritt schonungslos hervor. Eine Jakobinerin mit Einkaufstasche und Hund erobert die Ladenstraße, der Marktfahrer singt sein Auberginenlied. An der Ecke bleibt ein Dreijähriger stehen, er notiert alles, was er hört und sieht, in sein gelbes Heft, die Mutter wartet. Sie weiß, die Wirklichkeit lässt sich nicht begreifen. Außer vielleicht mit einem Bleistift in der Hand.” / Matthias Kußmann, DLF

Klaus Merz: Werkausgabe.
Band 1: Die Lamellen stehen offen. Frühe Lyrik 1963-1991, 240 Seiten
Band 2: In der Dunkelkammer. Frühe Prosa 1971-1982, 308 Seiten
Band 3: Fährdienst. Prosa 1983-1995, 312 Seiten
Haymon Verlag Innsbruck, Preis: je 24,90 Euro