85. Richard Anders verstorben

Ich erhielt die traurige Mitteilung, daß der Schriftsteller Richard Anders in der Nacht von Sa. 23. auf So. 24.6.
in Berlin, im Wenckebach-Klinikum, im Alter von 84 Jahren wahrscheinlich an Herzversagen verstorben ist.

Genau am Sonnabend vor 14 Jahren erhielt er in Greifswald den ersten Wolfgang-Koeppen-Preis, damals noch nicht von der Hansestadt Greifswald, sondern vom damaligen Falladaverein mit Unterstützung einer privaten Baufirma vergeben. Er freute sich sehr, im Alter von 70 Jahren eine Anerkennung für jahrzehntelanges Wirken im Verborgenen zu erfahren. Ein paar Jahre später schrieb er mir, ihm sei noch eine Freude widerfahren: die Akademie der Künste verlieh ihm den F.-C-Weiskopf-Preis. Zwei späte Ehrungen.

Ich mochte ihn und sein Werk sehr und freue mich, durch diesen Preis in Kontakt mit diesem liebenswürdigen Menschen gekommen zu sein, der phantastische Sammlungen von Büchern, Kunstwerken und allem möglichen aufgehäuft hatte. Von vielen wertvollen Kunstwerken mußte er sich trennen, um Geld für die Miete aufzubringen.

Richard Anders bekam es als sehr junger Mensch mit Krieg und Flucht zu tun. Auf der Flucht wäre er beinah von eifrigen Hütern der schon zusammengebrochenen Ordnung erschossen worden. Nach dem Krieg sollte er den Schulabschluß nachholen, aber die Bekanntschaft mit dem Surrealismus kam ihm dazwischen. Ein interessantes und unstetes Künstlerleben begann. Er suchte Hans Henny Jahnn auf und schaffte es, in den Mittwochskreis um André Breton hineinzukommen. Im Alter erlebte er, daß junge Künstler, Autoren und Vermittler jenseits des Mainstream auf ihn aufmerksam wurden.

Ein paar Splitter aus Wiecker Bote Nr. 22-26, 1998.

Eine eigene Poetik besitze ich nicht.  Doch bin ich wie jeder Lyriker meiner Generation durch die “Schule der klassischen Moderne” gegangen, ohne mich in ihr einzurichten.  Vom Surrealismus interessierten mich weniger die Assoziationsketten des psychischen Automatismus als die rätselhaften, kaum briefmarkengroßen Traumbilder, die beispielsweise der Maler Edgar Ende wie durch ein umgekehrtes Fernrohr sah. „Geheimnis und Melancholie einer Straße” stand unter der Schwarzweiß-Reproduktion eines Bildes von de Chirico, die mir kurz nach dem Krieg in die Hände fiel.  Gleich wußte ich: So wie dieses Bild gemalt ist, möchte ich schreiben, und von dem so Geschriebenen sollte die gleiche magische Wirkung ausgeben!  Heute sind es die bedrohlichen Topografien eines Edward Hopper oder Alex Colville, wo ich Anverwandtes entdecke. In der zeitgenössischen Lyrik vermisse ich diese Alltägliches in Überwirklichkeit verwandelnde Perspektivik weitgehend.  Und wie versuche ich mich ihr anzunähern?  Aus der Flut der Bilder, wie sie Kindheitserinnerungen oder die Gegenwart einer Stadt wie Berlin hervorbringen, wähle ich einzelne heraus und isoliere sie, indem ich sie der Stille und der Bewegungslosigkeit aussetze in der Hoffnung, ihr allzu scheues Geheimnis zum Bleiben zu bewegen.

1985

***

Niemand war zum Fest eingeladen als der Seiltänzer, der Neger und der Bankdirektor. Die Türen öffneten sich von alleine. Kerzen schwebten ihnen voran in den Speisesaal. Als sie genug gegessen und getrunken hatten, spielte eine Musik auf. Der Zirkusdirektor nahm den Neger beim Arm, während der Seiltänzer sich langsam auszuziehen begann. In diesem Augenblick erlosch das Licht. „Ich muß zum Amt“, sagte der Bankdirektor und rückte die verrutschte Krawatte zurecht. „Die Zirkusvorstellung kann jeden Augenblick beginnen“, sagte der Seiltänzer und prüfte seine Schuhe. „Ach“, sagte der Neger, „ich wollte heute mein Weib besuchen und probierte vor dem Spiegel ein verschmitztes Lächeln.“ Als draußen der Henker jeden einzeln zum Block führte, fand man es, wie gewohnt, ganz selbstverständlich.

1949/1950

***

Vor die Tür des Ichs treten kann nur, wer ohne Spiegelung, das heißt Reflektion auskommt.

Neunziger Jahre

Geschlechtsverkehr, aber die Geschlechtsteile sind morsche Äste und hohle Baumstümpfe.

1997

Versuch, ein Schreibverfahren nachzuzeichnen

Zuerst schreibe ich ziel- und planlos ohne vorgegebenes Thema. Ich überlasse mich dem Diktat des rimbaudschen »Anderen«: écriture automatique. Doch weder begnüge ich mich mit dem so empfangenen Text, noch suche ich aus ihm lediglich solche Einfälle heraus, die vor der Vernunft bestehen. Letzteres würde ich tun, wenn ich meine Vernunft nicht dazu erzogen hätte, mit der wortgewordenen Unvernunft ebenso verständnisvoll umzugehen wie ein Antipsychiater mit den manifesten Symptomen des Wahnsinns. Wie dieser sich die Geheimsprache seiner Patienten aneignen und sie auch praktizieren muß, um mit ihnen kommunizieren zu können (der rationale Diskurs käme dem irrationalen Gestus nicht bei), ist mir aufgegeben, in spielerischem Umgang mit meinem störrisch unsinnigen Text zu dem vorzudringen, was ich mir zu sagen habe. Dieser spielerische Umgang sieht wie Zerstörung aus. Doch sind es keine ästhetischen oder logischen Bedenken, die mich in meiner krausen Niederschrift herumstreichen, Umstellungen und Einfügungen vornehmen lassen, sondern neue Einfälle, die von dem Bilderreichtum semantisch divergierender Sätze und Satzteile ausgelöst werden. So schieben sich immer neue Texte ineinander, bis ich an einen Punkt komme, wo ich mein Verfahren umkehre in Richtung auf Einschränkung, Struktur, Form. Und plötzlich klärt sich in meinem Kopf wie auf einer Guckkastenbühne ein einziges szenisches Bild, das sich jedoch im Text, gebrochen durch Abstraktionen, Reflexionen, gleich wieder verflüchtigen soll, damit es nicht zu fixen Bedeutungen erstarrt. Erst indem das Bild ins paradox Bildlose abstürzt, wird es evident, also zum Denkbild.

***

Irgendwann – weiß der Kuckuck vor wieviel Jahren – träumte ich, am Morgen auf meinem Nachttisch ein kleines graues Buch zu finden. Ich blätterte darin. Es war die erste Sammlung meiner Gedichte. Sie waren von mir, aber ich hatte sie nie geschrieben. In einem anderen Traum ging ich in dem Gedichtband umher wie in einem Haus: Jede Seite ein neues Zimmer, das eine Überraschung für mich bereithielt. Zwei Glücksträume. Seither langweilt es mich, eindeutig über das zu schreiben, was ich schon weiß. Lieber lasse ich mich von meinen Sätzen dorthin führen, wo Bedeutungen noch nicht fixiert sind und wo meine vermessende Absicht ihre Fähnchen noch nicht eingesteckt hat. Dem Traum folgen usque ad finem? Seine Unerreichbarkeit raubt mir den Schlaf. Er gleicht dem Schiff auf dem Abziehbild, welches das Kind wie durch Nebel sieht. Nach dem Durchreiben in aller Pracht auf dem Papier erscheinend, ist es bereits fortgesegelt.

1988





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