Eine der meistgehassten Zeitschriften ist 70
Am 4. Januar 1947 wurde in Hannover eine neue Wochenzeitschrift aus der Taufe gehoben: Der nur 23 Jahre alte Rudolf Augstein wurde von drei britischen Offizieren der Militärregierung damit beauftragt, ein Nachrichtenmagazin nach dem Vorbild der britischen „News Review“ herauszubringen. Augstein fiel zunächst kein passender Name ein, aber sein Vater hatte spontan die richtige Idee: DER SPIEGEL.
Eine Woche nach seinem runden Geburtstag erschien am 11. Januar 2017 das Buch zum Jubiläum: 70 – Der Spiegel 1947–2017, herausgegeben vom aktuellen Chefredakteur Klaus Brinkbäumer. Konrad Adenauer bezeichnete den SPIEGEL als „Schmierblatt“, Willy Brandt schimpfte „Scheißblatt“ und Herbert Wehner war sogar der Meinung „Ein Blatt, weiter gar nichts“. Deutlich selbstbewusster ging Franz Josef Strauß mit dem Nachrichtenmagazin um, zumal ihn mit Rudolf Augstein eine gut gehegte und gepflegte Hassliebe verband: Dem Zitat „Was wäre der SPIEGEL ohne mich?“ ist nichts hinzuzufügen.
Die erste Botschaft bereits im Vorwort
Bevor überhaupt auf die Geschichte eines der ältesten Wochenblätter Deutschlands zurückgeschaut wird, erinnert sich Brinkbäumer in seinem Vorwort an den 4. November 2008. An diesem Tag gewann mit Barack Obama der erste afroamerikanische Kandidat die Wahl um das Amt des Präsidenten der USA. Brinkbäumer beschreibt, welche Hoffnungen sich damals mit Obamas Sieg verbunden hatten. „Yes, we can“ wurde zu einem Slogan, der um die Welt ging. Acht Jahre später wendete sich mit dem Sieg von Donald Trump das Blatt: Unter der massiven Zuhilfenahme von Twitter und Facebook gelang es ihm, seine demokratische Gegenkandidatin Hillary Clinton auszustechen, obwohl er sich eine soziale Grenzüberschreitung nach der anderen geleistet hatte. „Postfaktisch“ wurde danach zu einem neuen Schlagwort, dessen Bedeutung sich am einfachsten mit „nur auf Gefühlen, aber nicht auf Fakten beruhend“ übersetzen lässt. Brinkbäumer versteht den SPIEGEL wie schon zu Zeiten seiner Gründung als ein Medium, das die Dinge als das benennt, was sie sind: Rassisten sollen als solche bezeichnet werden, das gleiche gilt für Lügen. Ein hehrer Anspruch, der die Redaktion in den vergangenen 70 Jahren vor immer neue Herausforderungen gestellt hat.
Deutsche Geschichte spannend erzählt
70 - DER SPIEGEL 1947-2017 ist in sieben Abschnitte aufgeteilt, für jede Dekade einer. Auf einer Doppelseite werden zunächst die 32 besten Cover des Jahrzehnts abgebildet. Die Gründungsnummer 1 aus dem Jahr 1947 zeigte eine Person, die schon damals kaum bekannt war und heute völlig vergessen ist: Es ging im Heft um das Ziel Österreichs, künftig nicht mehr in vier Besatzungszonen aufgeteilt zu sein und staatlich souverän zu werden. Das Foto zeigte den Gesandten Österreichs Dr. Ludwig Kleinwächter, der im Augenblick der Aufnahme vor dem Weißen Haus seinen Hut zieht. Das Foto wird vielen bekannt vorkommen, die Geschichte dahinter wohl eher nicht.
Ähnlich ist es auch, wenn man weiter durch dieses Buch blättert: Es enthält neben zahlreichen Fotos von wichtigen oder bekannten Szenen oder Persönlichkeiten sehr umfangreiche Texte zu einzelnen Themen, die zum jeweiligen Zeitpunkt in aller Munde waren. Viele davon sind im Laufe der Zeit in den Hintergrund gerückt oder schlicht vergessen worden. Andere sind in der Erinnerung so präsent, als seien sie erst gestern passiert. 70 - DER SPIEGEL 1947-2017 gehört nicht zu den Büchern, die man von vorne bis hinten durchliest. Es ist eher ein sehr anschaulich und lebendig geschriebenes Geschichtsbuch, das auch für diejenigen interessant sein dürfte, die normalerweise keine SPIEGEL-Leser sind. Klaus Brinkbäumer hat für die Texte keine alten Artikel wieder „aufgewärmt“, sondern zu jedem ausgewählten Thema einen neuen Text geschrieben. Die Redaktion hatte sich für diese Art der Darstellung entschieden, weil der Abdruck einzelner Artikel oft aus dem Zusammenhang gerissen wirken kann und sich im Einzelfall der Sinn dahinter nicht erschließen würde. In den neu verfassten Texten wird berichtet, erklärt und auch ein Blick auf die eigenen Fehler geworfen. Immer wieder finden sich jedoch auch Artikel, die von Personen stammen, die sich über den SPIEGEL nicht immer gefreut haben. So hat zum Beispiel Willy Brandt, der zur Beisetzung des ermordeten Präsidenten John F. Kennedy nach Washington gereist war, über sein letztes Gespräch mit dessen Witwe berichtet.
70 – Der Spiegel 1947–2017 ist ein wichtiges Zeitdokument, was auch gewichtig daherkommt: Mit mehr als 1,8 kg Gewicht hat es eindeutig kein Handtaschenformat mehr.
Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. 70 – Der Spiegel 1947–2017 ist bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen und kostet 34,99 Euro.