Eine ungewöhnliche Lebensgeschichte eines heute vergessenen Demokraten
Kindheit und Jugend im Schutz des Adelsstandes
Hellmut von Gerlach wurde 1866 in Mönchmotschelnitz, einem Dorf in Niederschlesien, als Sohn eines Großgrundbesitzers geboren und wuchs im elterlichen Schloss auf, an das er sich als einen im Winter eiskalten Kasten erinnert, dessen Saal sich bei einer Außentemperatur von -22° C auf maximal 6° C heizen ließ. Ihm wurde früh klar, dass er unter privilegierten Verhältnissen aufwächst, er nahm das aber zur Kenntnis wie jemand, der der Meinung ist, dass ihm das aufgrund seines Standes zusteht. Er stieß sich erst als Jugendlicher daran, dass die Knechte mit ihren Familien und ihren bis zu 12 Kindern in einem einzigen Zimmer hausen mussten, während die eigene Familie in ihrem Schloss viele Räume gar nicht bewohnte. Bis zum Abitur war er strikt antisemitisch, militaristisch und erzkonservativ. Juden waren für ihn herumziehende und zerlumpte Menschen, die bettelnd oder Haushaltswaren verkaufend von Tür zu Tür ziehen. So kannte er sie aus seiner Heimat. Das Jurastudium in Genf zeigte ihm, dass es in Europa noch andere Vorstellungen von einem sozialen Miteinander gab, die mit dem Dünkel und den Moralvorstellungen des deutschen Adels und der Junker nichts gemeinsam hatten: Hier studierten auch zahlreiche Frauen, was an den deutschen Hochschulen noch völlig undenkbar war. Ursprünglich nur, um seine Französischkenntnisse zu verbessern, nahm von Gerlach an zahlreichen Versammlungen und Vorträgen teil. Dort begegnete er Anschauungen und Gepflogenheiten, die den eigenen und gewohnten diametral entgegenstanden: Die Polizei hielt sich so weit wie möglich im Hintergrund, der Staat brachte allen Bürgern grundsätzlich Vertrauen entgegen und errichtete öffentliche Gebäude, die allen Parteien gleichermaßen für ihre Wahlveranstaltungen zur Verfügung gestellt wurden. Das war genau das Gegenteil dessen, was der junge deutsche Student aus der eigenen Heimat gewohnt war, wo die Regierung jede legale und illegale Möglichkeit nutzte, um die Sozialdemokratie klein zu halten. In von Gerlach regten sich erste Zwiefel, ob das, was er bislang als normal und richtig angesehen hatte, dies auch tatsächlich war. Er setzte sein Studium in Straßburg, Leipzig und Berlin fort und trat als Rechtsreferendar in den Staatsdienst ein.Von allen Seiten: Erwartungen, die es zu erfüllen galt
Hellmut von Gerlachs Großväter hatten es zu etwas gebracht: Der eine war Polizei- und später Regierungspräsident gewesen, der andere hatte sich als angesehener Agrarexperte einen Namen gemacht und war dafür von der Universität Berlin mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden. Eine achtbare berufliche Laufbahn wurde unausgesprochen auch von ihm erwartet. Die Anstellung als Rechtsreferendar am Amtsgericht Lübben zeigte ihm erstmals deutlich, wie weit Wunsch und Wirklichkeit voneinander entfernt sein können. War es während des Studiums um Recht und Gerechtigkeit gegangen, behielten am ländlichen Amtsgericht Beständigkeit und Gemütlichkeit die Oberhand: Alles sollte so bleiben, wie es immer gewesen war, auch Urteile, die nach Sympathie oder Antipathie gesprochen wurden. Von all dem war von Gerlach so wenig ausgefüllt, dass er sich bereit erklärt hatte, für die lokale Zeitung gratis Theaterkritiken zu verfassen. Die "bessere Gesellschaft" nahm den mutmaßlichen Kontakt mit den nicht standesgemäßen Schauspielern derart übel, dass er auf dieses Hobby verzichten musste, um nicht seine Anstellung zu gefährden. Es verschlug ihn als Rechtsreferendar an weitere Orte, bevor er Regeirungsassessor in Ratzeburg wurde. 1892 verließ er den Staatsdienst und wurde Journalist. Seinem gesellschaftlichen Ansehen schadete dieser Schritt. Seine berufliche Tätigkeit für das Königreich Preußen hatte ihn immer wieder gezwungen, die Augen vor groben Ungerechtigkeiten zu verschließen und dem Unrecht den Vorzug zu geben: Zu beobachten, wie die aufkeimende Sozialdemokratie zugunsten der Erhaltung der Monarchie unterdrückt wurde, widersprach seinem Gerechtigkeitssinn. So war es allgemein üblich, dass an Wahltagen diejenigen Züge, die in den riesigen Wahlkreisen die überwiegend sozialdemokratisch gesinnten Wähler in die Wahllokale bringen sollten, auf freier Strecke anhielten und erst weiterfuhren, wenn die Wahl beendet war. Schuld war selbstverständlich immer der schlechte technische Zustand der Züge. Auch die Tatsache, dass sich Reichskanzler Bismarck ständig davor drückte, Steuern zu zahlen und sich deswegen auch für Repressalien gegen Untergebene nicht zu schade war, ärgerte von Gerlach.Sein Beruf führte ihn auch in einige afrikanische Kolonien, die von Deutschland oder England beansprucht waren. Der Umgang der Engländer mit den "Negern" war aus seiner Sicht deutlich geschickter als der der deutschen Kolonialherren: Sie waren mit Diplomatie und einem Gespür für die örtlichen Gegebenheiten erfolgreich, während seine Landsleute mit Einschüchterung und Gewalt versuchten, die Einheimischen zu unterwerfen.
Irrtümer und Enttäuschungen
Hellmut von Gerlach hatte sich lange Zeit Vorbilder gesucht, die ihm helfen sollten, den Weg zur richtigen Anschauung zu finden. In Von Rechts nach Links gibt er mehrmals selbstkritisch zu, sich in seinerzeit bekannten und geachteten Persönlichkeiten getäuscht und sich auf dem Holzweg befunden zu haben. 1898 versuchte von Gerlach im Wahlkreis Lingen-Bentheim einen Sitz im Preußischen Abgeordnetenhaus zu erringen. Doch seine liberalen Ansichten und seine Bemühungen um die Stimmen der Textil- und Eisenbahnarbeiter weckten bei den nationalliberalen Fabrikbesitzern so viel Argwohn, dass sie sich mit der verhassten Deutschen Zentrumspartei zusammentaten, um Gerlachs Wahl zum Abgeordneten erfolgreich zu verhindern. Etliche Jahre stand von Gerlach dem Theologen Stoecker politisch nahe, dessen Hetze gegen die Juden stieß ihn allerdings zunehmend ab. Er brach mit Stoecker und wandte sich dem charismatischen Friedrich Naumann zu, der die Vorstellung einer klassenübergreifenden Einheitsgesellschaft vertrat.Der Ausbruch des 1. Weltkriegs und dessen weiterer Verlauf machten Hellmut von Gerlach endgültig zum Pazifisten. Er nahm wahr, wie die Militärführung das deutsche Volk mit Übertreibungen über die eigene Stärke und die Schwäche der Kriegsgegner belog und es über die wahre Situation beständig im Unklaren ließ. Dazu trug die massive Zensur der Presse bei, die sich in den fast 4 1/2 Kriegsjahren ständig verschärfte und die Bürger dumm hielt. Pazifisten, die sich offen gegen den Krieg aussprachen, wurden bespitzelt, ihre Telefongespräche wurden abgehört und ihre Post geöffnet.