Normalerweise bin ich bei Hypes immer etwas skeptisch und tendiere dazu, das Gehypte absichtlich zu ignorieren. So ging es mir auch bei Dave Eggers' „Der Circle", aber schließlich war ich doch neugierig - vor allem, weil ich selbst in der Internetwelt arbeite und mich das Thema des Buchs allein deshalb schon reizte: Die 24-jährige Mae Holland fängt bei der großen Internetfirma ‚Circle' im Kundendienst an (dort ganz berufsjugendlich-hip als ‚Customer Experience' bezeichnet) und macht eine steile Karriere. Die Firma weist einige Parallelen zu dem auf, was man so von Google hört, und das ist wahrscheinlich Absicht. An den Job gekommen ist Mae dank ihrer Freundin Annie, die dort zur Führungsriege gehört. An der Spitze des Circles stehen die ‚drei Weisen' Ty Gospodinov (Ähnlichkeiten mit Mark Zuckerberg sind bestimmt rein zufällig), Eamon Bailey und Tom Stenton. Außerdem spielen noch Maes Eltern eine Rolle, ihr Vater ist an Multipler Sklerose erkrankt und muss mit der Krankenversicherung kämpfen, um ordentlich versorgt zu werden. Wichtig ist überdies Maes Ex-Freund Mercer, der mit ihrer schönen neuen Internetwelt, wo Transparenz, ständige Erreichbarkeit und die totale Daueroffenbarung alles sind, überhaupt nichts anfangen kann.
Kritiker haben „Der Circle" mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Wenn man mal bei Google (!) nach „Der Circle Kritik" sucht, stellt sich an erster Stelle gleich die Frage „Ist ‚Der Circle' ein gutes Buch?" und ich finde, das ist gar nich so leicht zu beantworten. Einige schimpfen, das Werk sei ein „schlechter Roman" oder ein „langweiliges dickes Buch", andere vergleichen es mit George Orwells „1984" oder mit Aldous Huxleys „Brave New World". Meine Meinung liegt wohl irgendwo dazwischen, aber ich werde mal versuchen, sie aufzudröseln. Ab hier können sich womöglich ein paar Spoiler einschleichen, also, wer das Buch noch ganz unvoreingenommen rezipieren möchte, sollte nun nicht weiterlesen. Alle anderen sind dazu eingeladen, ihre Ansichten zu „Der Circle" in den Kommentaren mitzuteilen.
„Der Circle": Spannender Inhalt, schlechter Stil?
Die meisten Nörgler kritisieren insbesondere den Stil des Romans. In der Erzähltheorie werden immer mindestens zwei Ebenen eines fiktionalen Werks unterschieden, das „Was" (histoire, story, ...) und das „Wie" (discours, ...). Gelegentlich monieren Profimeckerer auch das „Was" von „Der Circle" und schimpfen, das sei ja alles gar nicht neu, was da beschrieben wird, heute bereits möglich und teilweise auch schon Realität. Nun, da kann ich nicht wirklich etwas dagegen sagen, ich befasse mich beruflich weniger mit den technischen Möglichkeiten des Internets und mehr mit Inhalten. Also, vielleicht ist das heute schon möglich und nicht unwahrscheinlich, dass man sämtliche Internetdienste unter eine Identität fasst, diese Identität überprüft wird, sodass man im Netz nicht mehr anonym ist. Teilweise ist das bei Facebook ja schon so, dass sie bei Profilen prüfen, ob es den Namen wirklich gibt und man wirklich derjenige ist, als der man sich ausgibt. Auch die Idee mit SeeChange ist im Grunde einfach Google Street View und ähnliches weitergesponnen. Na ja, und die ständige Erreichbarkeit und private Belanglosigkeiten, die in der Netzöffentlichkeit breitgetreten werden, sind ebenfalls Realität. Allerdings finde ich das ehrlich gesagt deswegen nicht weniger interessant, sondern umso erschreckender, dass die Welt, die in „Der Circle" dargestellt wird, so nah dran an unserer Wirklichkeit ist. Dass technische Möglichkeiten, die es heute schon gibt, lediglich weitergesponnen werden, machen doch alles noch aktueller und gruseliger.
Aber was ist mit dem Stil? Kritikpunkte sind die platte, kunstlose Sprache, die teilweise merkwürdig und holprig anmutenden Formulierungen, hölzerne Dialoge, Holzhammer-Metaphern, die auch noch ausführlich für die ganz Doofen erklärt werden. Außerdem wird die Figurenkonzeption kritisiert, da kein wirklicher Sympathieträger sich herauskristallisiert. Es fällt schwer, sich mit den Figuren zu identifizieren, sich in sie hineinzufühlen und ihre Motive nachzuvollziehen. Vor allem Hauptfigur Mae gibt Rätsel auf und hinterlässt einen zum Schluss mit dem Gefühl, gerade über 500 Seiten lang einem absoluten Miststück gefolgt zu sein. Das stimmt schon, der Stil ist oberflächlich, unempathisch, plump und ... nun ... hässlich. Einige Stellen sind so langatmig, dass ich sie kurzerhand überflogen habe, und teilweise saß ich kopfschüttelnd da und dachte, Alter! Kann sich der Autor bitte mal ein bisschen mehr Mühe geben!? Aber ist „Der Circle" deswegen scheiße?
„Der Circle" regt zum Nachdenken an
Das Figurenpersonal, das sich dem Leser von „Der Circle" präsentiert, lebt bereits in einer Welt ständiger Erreichbarkeit, Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit. Für echtes Mitgefühl bleibt keine Zeit mehr, wahre Empfindungen sind nicht mehr möglich, wenn es nur noch ums Präsentieren und Performen geht. Reste davon lassen sich bei Maes Eltern und ihrem Ex-Freund Mercer erkennen, auch Ty lässt zum Schluss ein wenig Reue über den Verlust des echten Lebens zugunsten des im Internet inszenierten aufblitzen. Doch diese Menschen gehen in dieser schönen neuen Welt unter. Und das zeigt der Roman zwar etwas plakativ, aber durchaus klar, deutlich und eindrucksvoll. Der Stil passt im Prinzip perfekt auf die Mentalität der Personen, die in dieser Welt das Sagen haben, und da Hauptfigur Mae ebenfalls dazugehört, ist es nur konsequent, dass die Art und Weise, mit der Sprache umzugehen, ihrem Denken entspricht. Es ist zuweilen schwer auszuhalten, weil die passive Aggressivität der Gute-Laune-Terroristen im ‚Circle', dieser gnadenlose Narzissmus seiner Mitarbeiter, die totale Ich-Bezogenheit und Ignoranz gegenüber Andersdenkenden einem an die Nieren geht, teilweise aber so grotesk überspitzt wirkt, dass es fast schon komisch ist. Nur, dass einem das Lachen im Hals steckenbleibt, weil es wirklich solche Menschen gibt, die das ernst meinen.
In meiner Kritik zu Michel Houellebecq s „Unterwerfung" hatte ich die Frage gestellt, ob es sich dabei um eine Dystopie oder Utopie handelt. Auch bei „Der Circle" ist das meiner Meinung nach nicht eindeutig. Ich denke, das liegt daran, dass beide Romane nicht aus Sicht der Verliererseite erzählt werden, sondern aus Sicht der Gewinnerseite oder zumindest derer, die von den Entwicklungen in der Geschichte profitieren. Das führt mich zu der Annahme, dass es immer eine Frage der Perspektive ist, ob bestimmte Entwicklungen in der Geschichte als positiv oder negativ wahrgenommen werden.
Dadurch kommt man ins Grübeln, man hinterfragt seine eigenen Gewohnheiten und überlegt, wie viel von dem, was man im Internet preisgibt eitle Selbstdarstellung ist (schrieb sie in ihrem Blog😛 ), und wie viel von dem wirklich hundertprozentig ehrlich ist. Außerdem bin ich jetzt doch wieder am Zweifeln, ob ich mein uraltes Steinzeit-Handy, das mir seit rund 13-14 Jahren gute Dienste leistet, wirklich durch ein Smartphone ersetzen sollte ...