79. Rechthabenmüssen

In einem scheint sich die Literaturkritik sicher: Die jüngsten Gedichte von Günter Grass seien literarisch auf geradezu abenteuerliche Weise missraten. Das heißt: Entweder hat sich das über Jahrzehnte immer hochgelobte lyrische Werk des Dichters zuletzt rapide verschlechtert, oder aber die Literaturkritik hat sich ziemlich verspätet von einer schweren Verirrung befreit. (..)

Die politischen Botschaften sind bei Grass so überaus klar wie in der engagierten Lyrik des 19. Jahrhunderts – mit dem Unterschied, dass in dieser die niederen und profanen Themen des Politischen zumeist mit dem hohen Ton der Klassiker und Romantiker oder dem rustikalen Volkslied kombiniert wurden. (…)

Manchmal schleicht sich in diese unmissverständliche Sprache dann doch noch ein Bild, das über das konkret Bezeichnete hinausreicht. Dann, wenn Grass etwa darüber räsoniert, »was Freude bringt«. Die Kastanien, die man in der Hand hält oder der »Frühtau, / der im August / das Netzwerk der Spinnen versilbert«. Dann ist er vom »Reizklima des Rechthabenmüssens« (Martin Walser) so weit entfernt wie in seinen noch heute unbedingt lesenswerten Gedichtbänden Die Vorzüge der Windhühner (1956), Gleisdreieck (1960) oder auch Letzte Tänze (2003). / Adam Soboczynski, Die Zeit 42



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