78. Verstehen noch einmal

Von Bertram Reinecke

Der folgende Text entstand im Zusammenhang mit meiner Auseinandersetzung mit den vergangenen beiden Jahrbüchern der Lyrik. Da ich hoffte, dass das neue Jahrbuch zu der hitzig geführten Debatte, die sich besonders an Ulf Stolterfohts Satz „Das Verstehen in der Lyrik hat der Teufel gesehen“ entzündete, noch etwas beitragen würde, habe ich ihn zunächst noch zurückgehalten, um auch auf den Fortgang noch einzugehen. Da dort aber diese eigentlich noch unabgeschlossene (vielleicht aber auch unabschließbare) Debatte nicht fortgesetzt wurde, trage ich diesen späten Reflex auf den Streit nun hier unverändert nach. (Er setzt die Kenntnis der poetologischen Kommentare der zwei letzten Jahrbücher voraus.)

Ich bin verwundert, dass das vorsichtige Anreißen der Verstehensproblematik im Lyrikjahrbuch 08 so heftige Reaktionen im darauffolgenden Jahrgang ebenso wie anderswo hervorrief. Lag es daran, dass auch ein Geist von so andersartigem Temperament wie Christoph Buchwald sich den provokantesten Teil von Stolterfohts Bemerkungen zu eigen machte, oder hat man die Debatte auch als einen Stellvertreterkrieg um den Fachsprachenansatz zu verstehen?

Nicht zuletzt handelt es sich auch um eine Debatte unter renommierten Lyrikherausgebern. Ich möchte aber vermeiden hier allzu misstrauisch Motive zu unterschieben, sondern versuche in kritischer Diskussion eine eigene Position zwischen allen Stühlen einzubringen.

Axel Kutsch zieht sich zunächst die Proletenjacke über und gießt Stolterfohts Argumentation in das Entweder-oder-Schema eines Boxkampfes. Und kommt zu dem Schluss „Verstehen oder nicht verstehen – das ist doch nicht die Frage.“ Aber hatte Stolterfoht überhaupt so eine zugespitzte Frage gestellt? Er sprach u.A. nicht zuletzt von „Rat- und Hilflosigkeit“.

Diese Strategie ermöglicht Kutsch mit der Aussage „Die Frage kann nur lauten: Gelungen oder nicht gelungen?“ das Problem mit großzügiger Geste vom Tisch zu wischen und implizit mit zu bestreiten, dass es sich überhaupt lohnen könnte, wie tastend auch immer, zu erklären, was ein gelungenes Gedicht ausmachen könnte. Natürlich möchte jeder auf poetologisches Winkeladvokatentum verzichten, aber mit diesem Argument könnte man auch, weil es Gerechtigkeit ohnehin nicht herstellt, ein schriftlich kodifiziertes Recht ablehnen. Wie jedoch die Schriftlichkeit des Rechts denjenigen schützt, dessen Rede nicht durch Stand und allgemeine Achtung gesichert ist, so fällt der generöse Verzicht auf explizite Poetologie demjenigen leichter, der seinen Stand im literarischen Leben gesichert glaubt.

Axel Kutsch kann seine reduktionistische Lektüre, er weiß das selbst, nur deswegen etablieren, weil er genau das tut, was Stolterfoht ratlos zurückließe: Er weiß von vornherein, was Stolterfoht über das Verstehen sagen wollte und unterstellt, dass dies nur heimlichtuerisch verborgen wurde. Er geht sofort pointiert von der Frage: „Was steht da?“ zu einer anderen über: „Was bedeutet es ‘eigentlich’, was für Konsequenzen hat das?“.

Hans Thill geht da verständnisvoller mit Stolterfohts Position um und legt Hintergründe dar, die Stolterfohts Position stützen: Verstehen ist nicht das Einzige, was wir mit Gedichten vorhaben, das Spektrum der möglichen Sprachhandlungen ist größer. (Verbieten, Witze machen, Konfabulieren …, Auswendiglernen, Rumreichen wird Gisela Trahms später hinzusetzen) Und: Verstehen ist problematisch. Thill verweist darauf, dass einander Verstehen damit zu tun hat, eine Lebensform zu teilen. Zugespitzt: Zunächst verstehe ich mich selbst und dann allenfalls die, die dieselben Bücher gelesen haben. Thill bringt weiterhin in Anschlag, dass unsere Verstehensbegriffe durch die Abrichtung der Schulbildung kontaminiert sind. Und er teilt Stolterfohts Ansicht, dass Pointen oft kurz greifen wie mancher Schülerwitz. Aber dann passiert etwas Merkwürdiges: Alles versöhnt sich, so deutet Thill an, im Schoße einer avancierten Hermeneutik. Da leuchtet das alte interesselose Wohlgefallen. Ein Teufel, wem das nichts gilt, wer nach dem Erfolg seiner Sprachstrategien schaut, wer gar listig ist! Also Thill selbst gar? Denn Thill traut Ulf Stolterfoht wahrscheinlich zu, dass dieser die Position der klassischen Hermeneutik gut genug kennt, sie selbst vertreten zu können, wenn es ihm darum denn gegangen wäre.

Den Anspruch der Interessenlosigkeit teilt das abrichtende Schulverstehen, vor dem alle Schüler nach gleichen Maßstäben benotet sein sollen, mit der Germanistik samt ihren Interpretationsritualen, denn sie rechtfertigt sich über ihre Objektivität als Wissenschaft.

Verstehen heißt in beiden Fällen immer zunächst, unter Rekurs auf nachprüfbare Fakten und Kenntnisse sagen, was man gesehen hat. Immer ist ein Experte zugegen, der bewerten muss, ob das Gesagte stichhaltig ist. Der Satz: „Natürlich verstehe ich Celan, aber ich kann Ihnen nicht sagen, was es bedeutet“ ist an Schule und Uni gleichermaßen unmöglich. Schule und Hermeneutik problematisieren das Verstehen unzulässig, indem sie immer am möglichen Missverständnis ansetzen. Was Thill als Pennälerwitz abkanzelt, würden Rühmkorf, und vermutlich mit ihm Kutsch, eher als sprachliche Notwehr gegen solche Problematisierungen charakterisieren und zum Urgund der Poesie erklären. (Und man muss hier nicht gleich nur an Spottverse oder Politlyrik denken, auch Czernin sieht in der Poesie zunächst einen Mitvollzug von sprachlichen Wertungen und nicht ein interesseloses Wohlgefallen.)

Wer sieht, wie ideologisch Lehramtsstudenten auf poetische Sprachspiele reagieren („Was soll der Scheiß!“), während Viertklässler solche Übungen als beglückend sinnhaft erleben, wer sieht, wie Referendare, die mit solch „neumodischen Flausen“ in der Fachkonferenz baden gehen („Das haben wir immer so gemacht“), wer erlebt, wie schnell gerade Leute mit gutem Deutschunterricht bei einer Besprechung von Ingeborg Bachmann vom Gedicht ab und zu den „wichtigen“ Dingen wie Auschwitz kommen, der mag nicht recht glauben, dass verbesserte Interpretationsstrategien ein „Mehr von dem Selben“ in irgend einer Weise zu verbesserter Gedichtlektüre führen. Man darf Thill in Frage stellen: Ist dem Kind wirklich schon mit Erlernen der Schrift die Phantasie abhanden gekommen? Wohl kaum, es wird der Literaturunterricht gewesen sein. (Ausnahmen von dieser Regel sind um so bewundernswerter! Ich möchte auch nicht in den Doppelbindungsstrukturen der Schule jeden Tag arbeiten müssen!) Hat der Schüler die Phantasie einfach so zu Hause gelassen? Nein, er musste seine Prüfungen bestehen. Wer sich hier verweigert, wird nicht Mitglied im (Literatur)club. Verstehen von vornherein als überwundenes Mißverstehen zu denken, problematisiert Gesprächspartner zu Delinquenten. Dabei verstehen wir doch ganz gut auf unsere Weise („Es zieht“). Die Toleranz in Bezug auf Deutungen, die, wie Gisela Trahms bemerkt, ohnehin nicht so ganz durchgehalten wird, riecht da wie das Angebot eines Stillhalteabkommens einer kranken Praxis, welches jedoch nicht jedem gewährt wird: Sage Du nichts gegen mich, dann lass ich Dich auch in Ruhe. Die Engerlinge sitzen aber an der Wurzel. Stolterfohts „Hineingeheimnissen“ würde so als ein Symptom, eine Art Sekundärinfektion an dieser schon angegriffenen Pflanze verstanden, welche(s) diese falsche Toleranz ausnutzt. (Das schließt eine Hochachtung für den erstaunlich rüstigen hermeneutischen Verdauungstrakt eines Hans Thill natürlich nicht aus, es gibt ja auch echte Toleranz!)

Nun fühlte sich jedoch wohl fast jeder andere als der Sprachanarchist Stolterfoht diskursiv etwas unbekleidet, wenn er ohne einen Begriff von Verstehen auskommen wollte. Ich will hier vielleicht im Gegensatz zu Stolterfoht, aber, wie sich zeigen wird, gar nicht sehr, an einen anderen Verstehensbegriff erinnern, der nicht oder kaum durch Unterrichtspraxis kontaminiert ist. Verstehen soll nicht als das mehr oder weniger gekonnte Redublizieren eines Textes im Medium nachprüfbarer Fakten und Kenntnisse in vorgegebnem Rahmen („Das gehört nicht hierher!“) verstanden werden. Verstehen sei vielmehr Sinnvoll-fortsetzen-können. Etwa, wie einer nach der Oper die Carmenmelodie weiterpfeift und hie und da eine charmante neue Wendung einfügt. Auch Parodieren. Stolterfohts Texte stehen zu solchen Operationen bereit: Ein kundiger Leser könnte kunstreich Variationen in den Text einflechten. Man könnte eine Stelle aus einem Abenteuerschinken: „und fort im kurzen Galopp sprengte die kleine Kavalkade den schmalen Waldweg entlang“1  plötzlich betrachten wie das „kleine Thema“ von Vinteuil, welches im Septett „Das deutsche Dichterabzeichen“ dann ausgefaltet vor uns liegt.2  So gewönne auch der Satz: „Natürlich verstehe ich Celan, aber ich kann Ihnen nicht sagen, was es heißt“ einen Sinn: Ich traue mir zu, in seiner Art weiter zu sprechen.

Ein guter Witz ist dagegen autoritär und geschlossen: Alles ist an seinem Platz und nichts darüber hinaus ist möglich, man kann allenfalls einen neuen erzählen.

Einen doppelten Einwand sehe ich: „Nur Strukturverstehen?“ Hatten wir das nicht schon längst? Mag sein, aber wurde da nicht immer die Vokabel „wertfrei“ mitgedacht? Man hat sich „wissenschaftlich“ methodisch auf das weniger Streitbare wie Syntax, Metrik usw. konzentriert und Dinge wie Wertfragen und Semantik eher global abgehandelt.

Wer etwa Rilke parodiert wird jedoch früher oder später zu Vokabularen vordringen und Kombinationen erfinden, die für dessen Welthaltung charakteristisch sind („ragend einsam steht“) und man wird sich dann darüber unterhalten können, ob sich etwas als nacheifernd (meinetwegen auch unfreiwillig komisch) oder (meinetwegen: abgeschmackt) karikierend verstünde.

Der andere Einwand kann die selbe Formulierung benutzen, betont aber statt „Strukturverstehen“ das „Nur“: Gisela Trahms liest eine Eigeninterpretation von Monika Rinck und stellt am Ende fest: „Wenn das das Gedicht ‘ist’ dann verzichte ich lieber.“ Das Gedicht ist ja erst einmal vor allem noch weniger und Trahms sieht sich genau dadurch vor einem „schalen Nachgeschmack“ bewahrt. „Folge mir nach!“ spräche das (unverständliche) Gedicht, das führe dann zu einem Mehrwert, wie sie sensibel umschreibt. Aber das sieht dann auch etwas autoritär aus. Ich bin nicht sicher, ob Gisela Trahms nicht den Traum von der einigen Mystik, den auch die Hermeneutik träumt, mitträumt. Wo man bei einem konkreten Text nicht so ins Träumen gerät, wird das Gedicht dann abgewertet. So diese Sehnsucht nach der unergründlichen Tiefe der Kunst, wie sie das neunzehnte Jahrhundert erfunden hat („tief ist ihr Weh, viel tiefer noch als Herzeleid“). Und wo unser Gefühl diese Kunstrichtung etwas angestaubt aussehen lässt, versichert uns eine Deutungsindustrie, dass dies Gefühl an sich dennoch berechtigt ist. (Auch wenn diese Deutungsindustrie oft etwas seltsam aussieht, wenn sie sich z.B. an Priessnitz versucht.) Ihre Argumentation bedient sich jedenfalls dieses positiven Vorurteils über Lyrik, auch wenn sie selbst zu dem Gattungshochmut der Lyrik Distanz sucht: Ich sah einmal zwei Kleinkinder, eines sprach nur Polnisch eines nur Deutsch. Sie verstanden sich, ohne Rücksicht auf ihre Sprachen zu nehmen. Käme jemand auf die Idee, von dem Gattungshochmut des Kleinkindes zu sprechen? Nur weil unsere unterschiedlichst und krumm gewucherten Porphyriusbäumchen von der Schule allesamt auf Elefantenform zurückgestutzt wurden, denken manche, wir müssten zunächst zugeben, dass sie irgendwie „zumindest grundsätzlich“ gleich aufgebaut wären, ehe wir das Recht erwirken, darüber zu reden, dass sie auch unterschiedlich sein können. Erst am Ende ihres Textes verlässt Gisela Trahms in Bezug auf das Gedicht ihre provozierenden Singulare über das Gedicht und faltet in den Plural auf und das passt besser. Ihr Ast zweigt damit aber sozusagen erst etwas zu weit oben vom Baum der einigen Mystik ab.

Als etwas hinterhältig empfinde ich Gisela Trahms Rede vom Gedicht als höherem Kreuzworträtsel. Diese Sprechweise unterstellt, dass ein Textkonglomerat auf eine einzige Auflösung hinausliefe. Warum unterschiebt man dies heute notorisch gerade schwer- oder unverständlichen Gedichten? Das ist doch unplausibel.

Die zweite Anfrage gegen den polemischen Gehalt des Kreuzworträtselbildes lautet: Warum sollte man denn nicht einen Gedichtband lesen, bei dem man während der Lektüre niemals zu großartigen Verstehenserlebnissen kommt? Wie man etwa oft Radio hört, Zeitung liest? Selbst wenn uns Tiefengefühle zu haben antrainiert wurde, bzw. wir gelernt haben, sie vorzuschieben oder uns zu schämen wenn andere sie zu haben scheinen, und wir nicht.

Gisela Trahms misstraut zu guter letzt Stolterfohts Unterscheidung zwischen „Hineingeheimnissen“ und „einen Dreck scheren ums Verstandenwerden“: Sie sei nur mit mystischen Operationen zu erreichen. Vom Fortsetzungsverstehen gedacht, würde das Hineingeheimnissen einfach andere sprachliche Übungen erfordern und dies sollte man sehen lernen können. Dem entspricht meine Erfahrung: Ob etwas in einen Text hineingeheimnist wurde, oder ob sich der Text ums Verstehen einen Dreck schert, darüber konnte man sich am deutschen Literaturinstitut in Leipzig oft einigen, besser jedenfalls, als etwa über die Frage, ob der Text eine innere Notwendigkeit habe oder ob er zu kommunizieren verstehe, bevor er verstanden worden ist, wie eine Eliotsche Formel fordert, auf die Trahms anspielt. (Vielleicht ist das Literaturinstitut ein okkulter Ort?)

Das hier angedeute Verstehen des Gedichtverstehens zerschlägt den gordischen Knoten natürlich ebensowenig wie ein Anderes: „hermeneutisch knallt [zwar] alles auf null“ „allein [,] das äußern endet nicht“. Aber nicht deswegen, weil die Rede, wie die Hermeneutik es denkt, als unendliches Gespräch konzipiert ist, sondern weil wir eine Geschichte haben: Dauernd kommt etwas dazwischen. Dauernd ändern wir uns, dauernd müssen wir neu beginnen.

1Friedrich Gerstäcker: „Die Flußpiraten des Mississippi“

2Marcel Proust: „Die Entflohene“



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