78. Gedult, Gelaßenheit, treu, fromm und redlich seyn

Von Lnpoe

(aus Lyrikwiki Labor)

Anfangszeile eines Gedichts von Johann Christian Günther (1695-1723), das erst 150 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde (und auch dann noch zensiert!).

Von Günther wurden zu Lebzeiten nur verstreute Einzeltexte gedruckt. Eine erste Teilsammlung vom Herausgeber Fessel erschien erst nach seinem Tod 1724, weitere folgten bis 1735. 1742 erschien eine Nachlese von Arletius, die 1751 bereits die dritte Auflage erfuhr. Daraus entstand der Nachruhm Günthers als kraftvolles Genie, das sich aber nicht „zu zähmen“ wußte:

„Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grad, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern seine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen und mit passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen zu schmücken. Das Rohe und Wilde daran gehört seiner Zeit, seiner Lebensweise und besonders seinem Charakter oder, wenn man will, seiner Charakterlosigkeit. Er wusste sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten.

   Durch ein unfertiges Betragen hatte sich Günther das Glück verscherzt, an dem Hof Augusts des Zweiten angestellt zu werden, wo man, zu allem übrigen Prunk, sich auch nach einem Hofpoeten umsah, der den Festlichkeiten Schwung und Zierde geben und eine vorübergehende Pracht verewigen könnte.“

Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Siebtes Buch hier

In der auch im Erstdruck 1879 noch weggelassenen sechsten Strophe kulminiert der blasphemische Ansatz in einem Fluch auf Vater und Mutter, die ihn auf die Welt brachten:

Was wird mir nun davor? Ein Leben voller Noth.
O daß doch nicht mein Zeug aus Rabenfleisch entsproßen,
O daß doch dort kein Fluch des Vaters Lust verboth,
O wär doch seine Kraft auf kaltes Tuch gefloßen!
O daß doch nicht das Ey, in dem mein Bildnüß hing,
Durch Fäulung oder Brand der Mutter Schoos entgieng,
Bevor mein armer Geist dies Angsthaus eingenommen!
Jezt läg ich in der Ruh bey denen, die nicht sind,
Ich dürft, ich ärmster Mensch und gröstes Elendskind,
Nicht stets bey jeder Noth vor größrer Furcht umkommen.

In der Reclamausgabe von 1879 ließ Litzmann den Titel „Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärket wurde“ weg und „normalisierte“ Schreibweise und Interpunktion.

Über seinen zensierenden Eingriff in den Text sagt er:

„Dies bisher noch ungedruckte Gedicht findet sich in einer Abschrift Güntherscher Gedichte, die zum Zweck einer Ausgabe im 18. Jahrh. zusammengestellt worden, auf der Stadtbibliothek zu Breslau. Es ist so sehr im Geiste und Tone seiner sonstigen Gedichte, daß über seine Autorschaft ein Zweifel kaum obwalten kann. Doch mag der blasphemisirende Ton und vor allem der Inhalt der 6. Strophe (die auch in dieser Ausgabe weggelassen werden mußte) bei dem damaligen Herausgeber Anstoß erregt und so die Aufnahme in die Sammlung verhindert haben.“ (S. 112)

Erst 1880 druckte Litzmann in seiner Dissertation den vollständigen Text in (vermeintlicher) Originalschreibweise. Allerdings enthält sein Text allein in der sechsten Strophe nicht weniger als 20 Abweichungen von der Fassung in der sechsbändigen Werkausgabe von 1930/37. Ja sogar der Titel ist bei Litzmann verstümmelt: statt „innerlichen“ heißt es dort „mündlichen“ Trost. Heute kann man das anscheinend nicht mehr überprüfen, da das Original der Abschrift Jacobis nach Angaben von Bölhoff 1997 „größtenteils verloren“ ist.
Litzmann merkte zum Abdruck in der Dissertation an:

„mit Rücksicht auf die weiteren Kreise, für die jene Ausgabe bestimmt war, musste … die sechste Strophe, deren crasser Inhalt allen Gesetzen der Aesthetik – von der Moral ganz zu schweigen – ins Gesicht schlägt, unterdrückt werden“

Interessant, daß der Eingriff immer zuerst mit „allen Gesetzen der Ästhetik“ begründet wird.
Literatur:

  • Johann Christian Günther: Gedichte. Hrsg. von Berthold Litzmann. Leipzig: Reclam o.J. (1879).
  • Berthold Litzmann: Zur Textkritik und Biographie Johann Christian Günther’s. Frankfurt/M.: Rütten & Loening 1880, S. 118-120 
pdf
  • Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Wilhelm Krämer. Band 1-6 (7 nicht erschienen). Leipzig: Hiersemann 1930-1937 (Fotomechan. Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964). [Bd. 7 sollte u.a. den gesamten textkritischen Apparat sowie einige Fassungen und Bruchstücke enthalten.]
  • Johann Christian Günther (Text + Kritik 74/75). München: edition text + kritik 1982.
  • Johann Christian Günther. Hrsg. von Jens Stüben Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 1997 (darin ein Beitrag von Reiner Bölhoff: Probleme der Günther-Edition)