77 Mal

77 Mal

Foto copyright by Jessica Brach / pixelio.de

Kurz vor 20 Uhr näherte ich mich - aufgeregt wie ein Teenager beim ersten Rendezvous - unserem vereinbarten Treffpunkt.
Ich sah ihn schon von weitem stehen. Er hatte einen hellgrauen, modischen Wollmantel und eine schicke Kappe an. Mein Herz fing an zu rasen. Er schaute in eine andere Richtung und so stand ich plötzlich und von ihm unbemerkt hinter ihm und brachte ein zaghaftes "Hallo" heraus.
Er drehte sich um. Als Dreju mich sah, strahlte er über das ganze Gesicht. Er nahm mich in den Arm, küsste mich wieder unendlich zärtlich  und flüsterte mir ein "Endlisch! Isch 'atte Angst, dass Du vielleischt nischt kommen würdest!" ins Ohr.
Ein unbeschreibliches Gefühl überkam mich und ganz selbstverständlich gingen wir eng umarmt ein Stück die Fussgängerzone hinauf. In die Diskothek wollten wir beide noch nicht. Wir wollten reden, uns kennenlernen. Und so entschieden wir uns für ein privates, kleines Brauhaus, in das wir einkehrten. Wir suchten uns einen ungestörten Platz in einer Ecke, bestellten etwas zu trinken und begannen zu erzählen. Am Abend zuvor war ich eher die Zuhörerin und er erzählte viel von sich, diesmal wollte er mehr von mir erfahren.
So begann ich zu erzählen. Von meiner Kindheit, meiner Ehe mit Italo, meinem anstrengenden Leben als alleinerziehende Mutter zweier Kinder, meinem Beruf,...   ohne große Kommentare, aber immer wieder mit Zwischenfragen, aufrichtig interessiert und anteilnehmend hörte er mir zu.  Natürlich erzählte ich ihm keine Einzelheiten, dafür war es noch zu früh. Doch er konnte sich nun eher ein Bild von mir machen. Und dieses Bild gefiel ihm offensichtlich.
Den ganzen Abend hielt er meine Hand oder nahm mich in den Arm. Immer wieder sagte er mir Komplimente, was für eine schöne Stimme ich hätte, dass er meine Art zu erzählen sehr möge, wie sehr er mich bewundere für das, was ich geschafft hätte, was für eine tolle Frau ich sei... wie gut ich aussehen würde ... ich war so dankbar für diese wohltuenden Worte. 9 Jahre hatte ich alleine gelebt, hatte mich unsichtbar für die Männerwelt gemacht, niemand nahm Notiz von mir, mein Leben bestand aus meinen Kindern und meiner Arbeit, meine Ehe davor war zeitweise die Hölle... und nun das!!! So etwas hatte ich noch nie erlebt und gehört, noch nie hatte ein Mann mich so spüren lassen, wie sehr ich ihm gefiel, noch nie hatte ich solche Komplimente bekommen, noch nie hatte mich ein Gentleman der alten Schule so umgarnt! Ich fühlte mich wie eine Prinzessin. Und genau dieses Gefühl wollte mir Dreju auch vermitteln, denn er sagte:"Du bist etwas ganz Besonderes. Du bist eine Prinzessin! Du hast es verdient, dass man Dich gut behandelt."
Die Schmetterlinge! Den ganzen Abend flogen Millionen von Schmetterlingen in meinem Bauch herum. Auch dieses intensive Gefühl hatte ich so noch nicht erlebt und das sagte ich ihm:"Ich habe ganz viele Schmetterlinge im Bauch!" gestand ich ihm. Verständnislos schaute er mich an. "Isch verste'e nischt..." Da erklärte ich ihm, dass diese Schmetterlinge ein Synonym für das Gefühl der Verliebtheit sind. "C'est drôle! Das ist süß!" meinte er und schaute mir tief in die Augen.
"Möchtest Du nichts essen?" fragte er mich irgendwann. Nein, ich wollte nichts essen, ich hatte keinen Appetit. Vielleicht kennt jemand dieses Gefühl der Verliebtheit, das sich auf den Magen schlägt? Ich konnte nicht essen. Ich war so sehr mit meiner Gefühlswelt beschäftigt, da ging der Hunger gänzlich unter. Essen war nicht wichtig, nur er war wichtig.
Er erzählte mir etwas von seiner gescheiterten Ehe, davon, wie sehr er enttäuscht worden wäre. Seine Frau hätte kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter ein Verhältnis mit einem Arzt gehabt, das könne er ihr nicht verzeihen und nun würden sie in Scheidung leben. Er hänge sehr an seiner Tochter und es täte ihm sehr weh, dass sie darunter leiden müsse, er werde aber für das Sorgerecht kämpfen, er habe den Ehrgeiz, der erste Schwarzafrikaner zu werden, der das Sorgerecht für sein Kind in Deutschland bekommen würde und nicht die deutsche Mutter.
Seine Liebe zu seiner Tochter gefiel mir ausgesprochen gut. Das hieß doch, dass er Kinder allgemein mochte, und das bestätigte er mir auch. "Auch das passt!" dachte ich glücklich. "Dann werden sich Marco, Bianca und er sicher gut verstehen!"
Später am Abend gingen wir dann doch noch in die Diskothek. Wieder tanzten wir wunderbar miteinander. Wieder ließ ich mich von ihm auf Wolke Nummer 7 führen, wieder vergaß ich alles um mich rum, der gleiche Zauber des vorherigen Abends erfasste mich wieder, nur diesmal war bereits etwas mehr Vertrautheit da, ich konnte mich noch mehr dem Moment hingeben, konnte noch mehr genießen.
"Isch möchte Disch weiter'in se'en! Möschte Disch mehr kennen lernen! Möschte mehr Zeit mit Dir verbringen!" sagte mir Dreju irgendwann. "Wo warst Du nur all die Jahre? Warum 'abe isch Disch erst jetzt getroffen?" frage er mich. "Isch wünschte, isch 'ätte Disch gleich getroffen, als isch nach Deutschland kam. Du bist mein Hafen, den ich all die Jahre 'ier gesucht habe. Bei Dir fühle isch misch angekommen und angenommen!"
Diese Worte lösten ein ungemein starkes Gefühl der Verbundenheit mit ihm aus. Mir ging es doch genauso. Endlich war da jemand, der mich wahr nahm, der mich mochte und annahm, so wie ich bin. Wie konnte ich nur all die Jahre ohne dieses Gefühl, das Salz in der Suppe des Lebens, existieren. Ich bemerkte, wie sehr ich meine Gefühle und Bedürfnisse in der letzten Zeit vernachlässigt hatte.
Dreju war mein Prinz, der mich wach geküsst hatte. Er kam mir vor wie ein Seelenverwandter, meine zweite Hälfte, die ich jetzt erst gefunden zu haben schien.
Lächelnd sprach er weiter in seiner sehr bildhaften Sprache weiter:"76 Mal darfst Du fallen, 76 Mal helfe isch Dir wieder 'och. Beim 77. Mal bin isch nischt mehr da!" Irritiert schaute ich ihn an. "Das habe ich nicht verstanden, was willst Du mir damit sagen?"
"Ganz einfach: Du darfst viele Fehler machen, isch werde immer 'inter Dir stehen und Dir 'elfen, aber mach nicht zu viele, denn sonst bin isch eines Tages weg!" meinte er und schaute mir tief in die Augen. Ich verstand immer noch nicht ganz. Erst später verstand ich, dass er mir damit auf seine ganz eigene Art sagen wollte, dass er mit mir eine Beziehung eingehen wollte. Aber er steckte damit auch gleich seine Bedingungen fest. Das überschwengliche "ich werde immer für Dich da sein, nichts kann uns trennen" kam für ihn nicht in Frage. Er machte mir mit seiner Aussage unmissverständlich klar, dass er seine Grenzen hatte und ich diese nicht übertreten solle, sonst würde er gehen.
Tief beeindruckt von seiner Art zu reden und mit mir umzugehen kuschelte ich mich an ihn und dachte:"Das ist alles nicht wahr! Das ist ein Traum! Gleich wachst Du auf und alles ist vorbei!"
Aber es war nicht vorbei, dieser Abend ging zu Ende, doch Dreju und ich standen erst ganz am Anfang unserer sehr bewegten Zeit. Was noch alles kommen würde, ahnte ich damals noch nicht. Gegen 1 Uhr morgens verabschiedeten wir uns. Diesmal verabredeten wir uns für den übernächsten Tag. Wir planten, gemeinsam ins Kino zu gehen, ein schöner Platz für 2 frisch Verliebte.


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