Als nach dem Zweiten Weltkrieg Island in den Sog der amerikanischen Zivilisation und Moderne geriet und junge Autoren in der Folge die überlieferten Normen des Gedichts verabschiedeten und erst noch philosophisch wurden, stand die Insel unter Schock. Der Bauernführer Jónas frá Hriflu verurteilte ungebundene Dichtung ebenso als Zeichen des Niedergangs der Nation, wie der Literaturprofessor Sigurdur Nordal es tat. …
Der Widerstand, auf den die Atomdichtung traf, erinnert den Schriftsteller Andri Snaer Magnason an die Reaktion der Gesellschaft auf das erste Comingout von Homosexuellen in den achtziger Jahren. In seinem klugen Essay berichtet er überdies, wie er 1995 als 22-Jähriger seinen ersten Gedichtband veröffentlichte und von einem alten Mann zur Rede gestellt wurde, der sich masslos darüber aufregte, dass die Gedichte sich nicht reimten. Der Leser deklamierte Strophen aus allen Jahrhunderten und rief: «Das sind Gedichte!» Um den Zorn des Mannes zu begreifen, hörte sich Magnason alte Tonbänder an – Seeleute, die eigene Strophen zum Besten gaben, Bauern, die endlose Balladen rezitierten, wie es schon ihre 1750 geborenen Grossväter getan hatten, alte Frauen, die mit brüchiger Stimme Vierzeiler in jenem Versmass vortrugen, das in der Nation jahrhundertelang verankert war. Gedichte vermittelten Neuigkeiten und vertrieben Gespenster, sie waren überlebenswichtig. Die Atomdichter wagten in einer Zeit des Umbruchs einen Innovationssprung, den wenige verstanden, obwohl viele an Gedichten interessiert waren. / Aldo Keel, Neue Zürcher Zeitung 12.5.
Bei betagten Schiffen / Islands «Atomdichter». Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. 56. Jg., Band 2, Ausgabe 242. Zusammengestellt von Eysteinn Thorvaldsson und Wolfgang Schiffer. 418 S.