74. Trocadero

Ein Dialog über das Gedicht ‘Trocadero’, den Salzweg zwischen Ost und West und den Dichter Gerald Zschorsch / Von Ingo Schulze

Erster: Mir ging es mit Trocadero wie mit jeder Dichtung, die diesen Namen verdient. Ich glaubte zu verstehen, noch bevor ich die Wörter und Sätze begriff. Es war der Tonfall, der mich berührte. Ich reagierte auf diese Stimme.

Zweiter: Mich überrascht es jedes Mal wie bei der ersten Lektüre.

Trocadero

Du sollst nicht gehen,
Du sollst ja bleiben.
Der Muschelhörner Töne
sind gar viel.

Laß mich dich sehen.
Laß mich dich leiten.
Es ist das Schöne -
die Kür vom Spiel.

Salzweg des einen;
Salzweg des andern.
Bad Elster Bad Brambach -
Wanderei.

Und auf den Kämmen
des Böhmischen Waldes
fliegt ein Gedanke;
eine Wehmut vorbei.

(…)

Zweimal wurde Gerald Zschorsch in der DDR inhaftiert: 1968, noch sechzehnjährig, wird er gefasst, als er Flugblätter gegen den Einmarsch in der CSSR verteilt. Von August 1968 bis Dezember 1970 verbüßt er eine Jugendhaftstrafe. Trotzdem kann er sein Abitur nachholen. Im August 1972 wird er erneut verhaftet, weil er Lieder à la Biermann vorträgt. In erster Instanz zu fünfeinhalb Jahren verurteilt, in zweiter zu vier Jahren, davon ein Jahr in der berüchtigten Untersuchungshaft. Zschorsch streitet nichts ab, er interpretiert seine Gedichte für Staatsanwalt und Richter, weil er seine Kritik für berechtigt und notwendig hält. Am 18. Dezember 1974, kurz vor seinem 23. Geburtstag, wird er in den Westen abgeschoben.

/ Süddeutsche Zeitung 10.11. S. 14



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