73. Phonetik des Theaters

Auch bei den russischen Futuristen gibt es noch Ausgrabungen zu machen. Der junge Leipziger Verlag Reinecke und Voß gibt ein Buch von Alexej Krutschonych heraus, übersetzt von Valeri Scherstjanoi.

Alexej Krutschonych, geb. 1886 als Bauernsohn in der heutigen Ukraine, studierte Kunst in Odessa und Moskau. Er war Futurist, Dichter, Zeichner, Sammler und Herausgeber von Künstlerbüchern. Neben Majakowski und Chlebnikow war er Mitautor der wichtigsten Manifeste des russischen Futurismus, u.a.  „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“, 1912.

Er verfasste 1912 das erste Sa-um-Gedicht Dyr bul stschyl:

Zaum Transliteration

Дыр бул щыл
убещур
скум
вы со бу
р л эз Dyr bul shchyl
ubeshchur
skum
vy so bu
r l ez

(aus der englischen Wikipedia – dort und in der russischen Version gibt es mehr Links als in der deutschen)

In Tiflis gründete er mit Igor Terentjew und Ilja Sdanewitsch die futuristische Gruppe «41°». Zu  Beginn der 20er Jahre kehrte er nach Moskau zurück und veröffentlichte in der „LEF“ – Zeitschrift und im Verlag „MAF“.

Nach Majakowskis Selbstmord (1930) distanzierte sich Krutschonych von allen literarischen Aktivitäten. Er starb 1968 als teils belächelter, teils abgelehnter Sammler und Bibliophiler in Moskau.

In der Phonetik des Theaters sieht Krutschonych den Dichter als Akteur einer theatralischen Inszenierung. Die sa-umnische Sprache erlaube dabei „die Worte entsprechend einer bestimmten phonetischen oder einer anderen Aufgabe zu zerbröckeln. Das Wort wird biegsam, schmelzbar, schmiedbar und dehnbar.“.

Die neue Sprache wird „zu einer emotionalen Begleitung“  der Stummfilmkunst und „strebt danach, international zu sein, wie das Film-Theater“

Der Text  ist eine Collage aus sa-umnischen Gedichten und Beiträgen von Krutschonych und seinen Mitstreitern.

Alexei Jelissejewitsch Krutschonych „Phonetik des Theaters“
Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Valeri Scherstjanoi.
1. Auflage
978-3-9813470-5-0
Paperback: 19×12
10 Euro

Hier mit freundlicher Genehmigung des Verlages eine Textprobe:

Die Probleme, die aus der Erscheinung der sa-umnischen Sprache erwuchsen, sind folgende:

    1. 1. Bildliche und phonetische Seite der sa-umnischen Sprache.

Bis heute beachteten die Forscher hauptsächlich die lautliche, phonetische Seite der Sa-um; man beschuldigte uns sogar, die Poesie in den Bereich der Musik zu überführen, d.h. sie, die Poesie einer der wichtigsten Teile der Wortbildhaftigkeit zu entledigen. Und dabei vergaß man völlig, dass wir mit der Herausbildung der Wortverschiebungen und der sa-umnisch-synthetischen Worte eine völlig neue Position eines sa-umnischen Bildes gebracht haben, das durch unsere Worte ausgedrückt wird. Beispiele: сарун, мизюнь, трусть, рококовый рококуй, гнестр, петер usw.

[sarunʲ mʲzʲunʲ trustʲ rɔkɔkɔvɨj rɔkɔkuj

gnʲɛstr pʲɛtʲɛr]

„Das ist des Windes zärtlicher pjeter“ [pʲɛtʲɛr]

(W. Chlebnikow). Im Wort петер [pʲɛtʲɛr] wird das Verb singen [pʲɛtʲ] mit dem Substantiv ветер [vʲɛtʲɛr] zusammengeschlossen. Das Lied des Windes wird im Wort [pʲɛtʲɛr] gegeben: Ein neues, noch nicht genau bestimmtes Bild, das teilweise an den Hahn петух [pʲɛtux] erinnert.

Im sa-umnischen Wort sind immer Teile verschiedener Wörter enthalten (Sinne der Bilder), die ein neues sa-umnisches, aber nicht genau bestimmtes Bild geben. (Beispiel: Das Wort [pʲɛtʲɛr] lässt auch eine andere Deutung zu, als jene, die wir ihm gegeben hatten). Die phonetische Seite des sa-umnischen Wortes ist keinesfalls eine Lautnachahmung (aj-aj oder mjau-mjau), sondern eine selbständige und immer ungewöhnliche Lautverbindung. Beispiel:

Хо – бо – ро
Мо – чо – ро
Во – ро – мо
Жлыч

[xɔ bɔ rɔ
mɔ tʃʲɔ rɔ
vɔ rɔ mɔ
ʒlɨtʃʲ]

Die Aufgabe der sa-umnischen Sprache ist: Eine für die gegebene Sprache ungewöhnliche Lautreihe zu erspüren, das Ohr und den Hals, die den Laut aufnehmenden und reproduzierenden Organe des Hörens und des Sprechens zu erfrischen. An weiteren Problemen deuten wir an:

    1. 2. Die Schicksale der sa-umnischen Sprache:
      1. a. bis zu welchem Grade ist die sa-umnische Sprache in der Poesie zulässig (einzelne Wörtchen, kleine Verse, ganze Poeme, Dramen, Romane)?
      2. b. welcher Sprache gehört die Zukunft in der Kunst – der gewöhnlichen oder der sa-umnischen, und ist die Sa-um nur die Verjüngung der alten Sprache, oder wird sie von ihr völlig verschlungen?
    1. 3. Die sa-umnische Sprache und die Öffentlichkeit:
      1. a. ist die Sa-um eine Ausgeburt des Individualismus, des subjektiven Genießens der Welt, oder trägt sie in sich einen kollektiven Anfang, wird sie von den Massen gebraucht? (Massensignalisation).

b. ist die Sa-um eine Sprache der Zukunft (Gegenstandslosigkeit, Konstruktivismus), oder der Vergangenheit (Barbarei, primitiv)?

Bisher sind meine Meinung und mein Glaube derart

SA-UM IST EINE NEUE KUNST, GEGEBEN   VOM NEUEN RUSSLAND
der ganzen erstaunten und verwirrten Welt.



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