Schrott Ist die Studie nicht auch ein Kniefall vor dem positivistischen Zeitgeist?
Schrott Einerseits stimmt das natürlich. Das Geheimnisvolle, Unsagbare und Geniale der Poesie wird zugunsten des Messbaren ausgesetzt – doch nur um sich ihr einmal von der Seite der Pragmatik nähern zu können.
Wie groß ist denn die Gefahr, dass Lyrik dadurch entzaubert wird?
Schrott Null. Sie gewinnt dadurch nur. Kein Gedicht wird zerstört, indem man hinter den Vorhang schaut. Was man dann wahrnimmt, ist weitaus interessanter und kann die Wirkung des Gedichts nur erhöhen. Damit kann man auch mit dem Vorurteil aufräumen, Gedichte seien „schwierig“.
Was haben Sie aus neurologischer Sicht Neues über das Gedicht lernen können?
Schrott Dadurch, dass ein Gedicht Bild, Musik und Information synchron liefert und im Grunde ein Kino im Kopf ist, wird es zum menschlichsten und komprimiertesten Zeugnis unseres Denkens und unserer Wahrnehmung. Man erkennt, dass das Gedicht in einer Zeit, in der es noch keine Schrift gab, mit seiner musikalisch gebundenen Sprache die einzige Möglichkeit war, sich Informationen über größere Strecken zu merken.
Der Rhythmus ist es also.
Schrott So ist es. Über die verschiedenen und doch miteinander verknüpften Speichermöglichkeiten der Musik und des Inhalts verfügen wir über die doppelte Kapazität. Wenn wir ein Lied trocken aufsagen, kommen wir drei Zeilen weit; wenn wir es singen, gelangen wir bis zur nächsten Strophe. So fußt bereits die Erfindung des Gedichts auf Pragmatik: nämlich als Erinnerungsspeicher zu fungieren.
Was stellt das Gedicht – in seiner schriftlichen Form – in unserem Gehirn an?
Schrott Die Erfindung der Schrift ist zweifelsohne einer der revolutionärsten Entwicklungsschritte in der Menschheitsgeschichte. Sie hat unsere Wahrnehmung radikal verändert. Mündlich funktioniert die Sprache über den Klang, in dessen Mitte wir stehen. Das Lesen dagegen stellt uns an den Rand, lässt uns die Worte wie Dinge betrachten und macht das Visuelle dominant. Vorher war das Wort als Klang ein Ereignis, beim Lesen ist es ein Objekt, wird verschiebbar und vor allem beliebig wiederholt lesbar. Plötzlich hatten wir Begrifflichkeiten, mit denen wir wie mit Legosteinen hantieren konnten. / Rheinische Post
Raoul Schrott / Arthur Jacobs, „Gehirn und Gedicht“, Hanser, 544 S., 29,90 Euro