Ob E-Mails, Antibiotika oder die Kreditkarte – sie haben eines gemeinsam: Sie waren zufällige Nebenprodukte oder standen eigentlich gar nicht im Fokus der Forschung. Lesen Sie hier sieben interessante Beispiele, bei denen der Zufall Regie führte.
Zudem verrät uns der Innovationsexperte Dr. Jens-Uwe Meyer und der Psychologe und Autor Bas Kast, was Unternehmer tun können, um bahnbrechenden Ideen auf die Sprünge zu helfen.
Auf der Suche nach dem Entdeckergeist
Dr. Jens-Uwe Meyer schreit es seit geraumer Zeit durch alle Korridore großer Unternehmen: „Es muss ein radikaler Entdeckergeist in unserer eingefahrenen Unternehmensstruktur gefördert werden.“
Der ehemalige ProSieben-Studioleiter von Jerusalem und Washington kämpft mit seinem Unternehmen „Die Ideeologen“ für mehr Mut und Pioniergeist in Großfirmen. Produkte, für die es noch keine Märkte gibt, Dienstleistungen, die niemand für möglich hält und Geschäftsmodelle, die die Regeln ganzer Branchen auf den Kopf stellen – das sind seine Ziele.
Basierend auf der Arbeitsmethode des US-amerikanischen Erfinders Thomas Edison, entwickelte Meyer das Edison-Prinzip. Eine Kreativitätstechnik, mit der die Ideenfindungen leichter von der Hand gehen sollen.
Die sechs Schritte des Edison Prinzips:
1. Erfolgschancen der Idee erkennen und richtig einschätzen
2. Die gewohnten Strukturen verlassen und neue Wege gehen
3. Die Inspirationen richtiggehend suchen
4. Spannung erzeugen
5. Ideen und die Erkenntnisse ordnen
6. Größtmöglichen Nutzen ziehen
„Man muss loslassen, offen sein für scheinbar Irrelevantes“
So eine Anleitung für kreative Prozesse kann helfen, verkrustete Strukturen zu hinterfragen. Und genau darin liegt die Schwierigkeit, so Bas Kast, Wissenschaftler und Autor des Buches „Und plötzlich macht es KLICK! Das Handwerk der Kreativität oder wie die guten Ideen in den Kopf kommen“:
„In Unternehmen herrscht oft eine Kultur, wo der konzentrierte Modus oft der einzig gültige ist. Aber es ist das Gespräch mit dem Kollegen oder die Auszeit, wenn wir am Kopierer stehen, erst dann sind wir im „kreativen Modus“ und uns fallen die guten Ideen ein.
Immer mehr Unternehmen, wie etwa Google, Facebook oder AOL, erkennen aber nach und nach, dass man auch diesen entspannten Modus kultivieren sollte. Denn gerade bei kreativen Problemen und Innovationen liegt häufig die Lösung in scheinbar Nebensächlichen. Das heißt, man muss loslassen, offen sein für scheinbar Irrelevantes.“
Im Prinzip sind alle diese „Zufälle“ gar keine echten Zufälle. Es sind Ereignisse, die nicht durch planbare Prozesse eingetreten sind, sondern durch das, was die Amerikaner „Serendipity“ nennen: Glückliche Zufälle, die sich nur deshalb ereignen konnten, weil Unternehmen beziehungsweise Institutionen die passenden Voraussetzungen dafür geschaffen haben.
Kreativität ist der Motor für die Wirtschaft
Kreative Menschen müssen heute weiterdenken, eventuell Innovationen entwickeln, für die noch gar kein Markt existiert. Meyer vergleicht dass mit dem Henne-Ei Prinzip. „War zuerst die Technik da, die Idee oder das Bedürfnis?“ Manchmal wissen die zukünftigen Konsumenten noch gar nicht, dass sie überhaupt etwas brauchen.
Genau darin liegt das Potential des Visionärs uns unser größter Trumpf. Richard Florida, US-amerikanischer Ökonom, brachte es bereits 2002 mit seinem Buch „The rise of the creative class“ auf den Punkt: Kreativität wird zum zentralen Wirtschafts- und Gesellschaftsfaktor des neuen Zeitalters.
Mehr Austausch ermöglichen
Eine Studie der Universität Chicago mit rund 700 Managern ergab, dass Manager, die sich regelmäßig mit Mitarbeitern aus anderen Abteilungen austauschten, die besten Ideen haben. Der Grund: Die Mitarbeiter, die sich nur in ihrer eigenen Abteilung aufhielten, fehlte schlichtweg neuer Input, frischer Wind für neue Ansätze.
Bas Kast meint, dass man zum Beispiel Kommunikation durch Architektur gut beeinflussten könne:
Als Steve Jobs das neue Zentralgebäude für das Animationsstudio Pixar mit entwarf, sollte es für das ganze Gebäude nur einen WC-Bereich geben. Warum? Um die Mitarbeiter in Bewegung zu bringen und zufällige Begegnungen zwischen ihnen zu forcieren!
Leider konnte er sich am Ende nicht ganz durchsetzen. Nun gibt es mehrere WC-Bereiche, dafür aber ein zentrales Atrium mit Kiosk, den Mitarbeiter-Postfächern und einer Gratis-Müsli-Bar, wo sich die Leute treffen und austauschen können, berichtet Kast begeistert.
Übrigens: Er hält das klassische Brainstorming für wenig hilfreich. „Kreative Ideen entstehen nicht auf Kommando, sie tauchen nicht sitzungsweise auf.“
Innovation braucht den Zufall
Große Ideen brauchen jedoch nicht nur ein passendes Umfeld, in dem sie entstehen können, sondern immer Leidenschaft, das Experiment, den Zufall und sich ändernde Umstände. Zu viel Statik, zu viel Struktur, zu viel Bürokratie sind Gift für eine Umgebung, in der neue Ideen und Visionen wachsen sollen, so Meyer.
Bas Kast beschreibt es so:
Unser Gehirn denkt in Routine-Mustern. Immer wieder flackern dieselben Neuronen-Netzwerke auf. Wir denken Standard-Gedanken. Wenn Sie wirklich neu denken wollen, dann müssen Sie diese Standard-Muster schockieren und durchmischen. Da kann der Zufall eine wichtige Rolle spielen.
7 große Beispiele für zufällige Ideen
1. Der Tesafilm
Bevor Hugo Kirchberg 1934 für die Firma Beiersdorf aus Hamburg das Klebeband zu einem Kassenschlager machte, war es zunächst eine große Enttäuschung. Und zwar für den ursprünglichen Erfinder Oskar Troplowitz, der eigentlich ein Wundpflaster entwickeln wollte.
Der Kautschukfilm haftete allerdings so stark, dass er die Haut gleich mit herunter riss. Erst Kirchberg entwickelte das Produkt weiter und fand nicht nur den richtigen Zweck, sondern auch der richtige Namen. Am Ende entstand der Tesa-Film – „zum Kleben, Flicken, Basteln“.
Wohlgemerkt gegen den Widerstand des Vorstands. Gut, dass sich Kirchberg durchsetzte, denn der Umsatz des Unternehmens stieg bald auf mehrere Milliarden Euro.
2. Die Luftpolsterfolie
Ursprünglich entstand das Verpackungsmaterial mit Spaß-Faktor 1957 in einer Garage in New York. Ihre Erfinder, Alfred Fielding und Marc Chavannes, hatten allerdings am Anfang etwas ganz anderes im Sinn. Sie wollten eine neumodische, leicht abwaschbare Plastiktapete in Weltraumoptik entwerfen.
Zwei zusammengeklebte Duschvorhänge, kleine Luftblasen und eine weiße Papierschicht dazwischen reichten dafür aus. Das Design floppte allerdings. Auch als die beiden Ingenieure versuchten, die Tapete als Isoliermaterial für Gewächshäuser zu vermarkten, blieb der Erfolg aus.
Erst als sie zwei Jahre später ihr Produkt als Verpackungsfolie mit dem Namen „Bubble Wrap“ beim US-Patentamt anmeldeten, schafften sie den Durchbruch. Ein Jahr danach gründeten sie die Firma Sealed Air, die sich auf Verpackungen spezialisierte.
Für sensible Transportgüter war das Verpackungsmaterial mit Luftpolster genau das Richtige und endlich stellte sich auch der lang erhoffte Erfolg ein. In 2009 erwirtschaftet die Firma mit 16 000 weltweiten Mitarbeitern 4,2 Milliarden US-Dollar.
3. Die Kreditkarte
Erstmals wurde die Idee der Kreditkarte 1887 in dem Science-Fiction Roman „Looking Backward“ von Edward Bellamy erwähnt. Die tatsächliche Erfindung der Karte mit dem Kaufe-Jetzt-Bezahle-Später-Prinzip wurde aber erst 1950 von Frank McNamara und Ralph Schneider zunächst in Form eines exklusiven Restaurant-Cubs mit einigen Umwegen vorangetrieben.
Freunde und Bekannte der Gründer sollten mit der Karte in ausgewählten New Yorker Restaurants essen können, ohne dafür gleich bezahlen zu müssen. Hintergrund war, so die Firmenlegende, dass Frank McNamara in einem Lokal eine unterschriebene Visitenkarte zurückließ. Das Geld reichte leider nicht, um sein Essen zu bezahlen.
Ab 1951 änderte sich die Zielgruppe langsam, der Diners Club überwand die regionalen Grenzen und die bargeldlose Bezahlkarte für alles Mögliche war geboren.
4. Teflon
Dass Teflon gezielt für die Raumfahrt entwickelt wurde, stimmt nicht. Bereits in den 30er- Jahren forschte der Chemiker Roy Plunkett für die Firma DuPont nach einem neuen Kältemittel mit Tetrafluorethylen (TFE) für Kühlschränke. TFE lagerte bei minus 80 Grad Celsius in kleinen Stahlflaschen.
Genau in diesen Flaschen entdeckte man nach einigen Monaten farblose Rückstände. TFE war aus Zufall zu PTFE polymerisiert, dem heutigen Teflon. Plunkett meldete zwar 1939 ein Patent darauf an, Verwendung fand der extrem reaktionsträge Stoff allerdings nicht. PTFE wurde erst 1943 bei der Uran-Anreicherung als Korrosionsschutz verwendet.
Jahre danach kam der französische Chemiker Marc Grégoire darauf, seine Angelschnur mit PTFE zu beschichten, um sie besser zu entwirren. Seine findige Frau Colette hatte letztendlich die Idee, auch Töpfe und Pfannen damit zu beschichten. Dafür meldete sie 1954 ein Patent an. Heute wird Teflon für Raumanzüge, Küchengeräte, im Chemie-Anlagenbau als Auskleidungsstoff oder in der Medizin verwendet.
5. Antibiotika
Am 28. September 1928 begann für Alexander Fleming ein eher schlechter Arbeitstag. Der Forscher entdeckte frühmorgens in seinem Labor, dass bei einem seiner Versuche etwas ziemlich schief gegangen war:
Schimmel hatte sich in einer Glasschale angesiedelt, wobei er dort eigentlich Staphylokokken züchten wollte. Diese Bakterien können bei schwachem Immunsystem zu Krankheitserregern werden und etwa eine Lungenentzündung auslösen. Flemings Ziel war es, diese Erreger zu bekämpfen.
Als er sich die Petrischale genauer ansah, entdeckte er, dass es an den Stellen keine Staphylokokken mehr gab, wo sich der Schimmelpilz angesiedelt hatte. Der Forscher schloss darauf, dass der Pilz die Bakterien zerstörte und nannte es Penicillin.
Übrigens: Schon 1897 schrieb der französische Militärarzt Ernest Duchesne über die Bakterien-abtötende Eigenschaft bestimmter Schimmelpilze. Genauso, wie vor ihm Bartolomeo Gosio im Jahr 1893. Er erfuhr leider erst viel zu spät internationale Aufmerksamkeit. Der leidige Grund: Er berichtete von seinen Erkenntnissen nur auf Italienisch.
6. Die Anfänge des Internets und der E-Mail
Laut dem E-Mail Statisics Report 2013-2017 von Radicati.com wird 2017 die Zahl der versendeten E-Mails weltweit auf über 132 Milliarden ansteigen. Doch wie kam es erst zur Beliebtheit und vor allem zum Format der heutigen E-Mail?
Interessanterweise war die E-Mail nur ein Nebenprodukt des damaligen Vorläufers des Internets, dem sogenannten Aparnets. Ray Tomlison, der damals als 30-Jähriger bei Bolt Bernek and Newman (BBN) im Auftrag des amerikanischen Verteidigungsministeriums am Aparnet arbeitete, hatte als erster die Idee.
Menschen sollten sich eine Nachricht über ihren Computer schicken können – von Stadt zu Stadt, am besten von Kontinent zu Kontinent. Die erste E-Mail schickt er sich im Winter 1971 deshalb auf die Adresse tomlinson@bbntenexa – von einem Computer zu einem anderen in seinem Zimmer. Die Endungen .de, .com, .org wurden erst später eingeführt.
Apropos: Noch 1967 prophezeite einer der Initiatoren des Aparnets, Lawrence Roberts, dass ein möglicher Austausch von Botschaften und Informationen kein wichtiger Beweggrund sei, um ein Netzwerk aus (wissenschaftlichen) Rechnern aufzubauen.
Übrigens: Die Vermutung, dass während des Kalten Krieges ein dezentrales Kommunikationssystem erschaffen werden sollte, um im Falle eines Atomkriegs Kommunikation weiterhin zu ermöglichen, ist nicht bestätigt.
7. Hollywood
Das Wahrzeichen Los Angeles – der Hollywood-Schriftzug – war eigentlich für etwas ganz anderes gedacht. Der Schriftzug in den Bergen der Stadt war im Jahr 1923 noch um vier Buchstaben länger und pries mit „Hollywoodland“ ein Luxus-Neubaugebiet an.
Die Idee dazu hatte Harry Chandler, der dort aus Telefonmasten, Holz und Stoffresten die 15 Meter hohen Buchstaben zusammen bauen ließ. 4000 Glühbirnen, die abwechselnd „HOLLY“, „WOOD“ und „LAND“ beleuchteten, sollte auf die neue noble Wohngegend aufmerksam machen. Allerdings ging Chandlers Immobilienfirma trotz der genialen Werbe-Idee pleite.
1949 riss man dann „LAND“ ab und erst 1978 renovierte man die restlichen Buchstaben, finanziert von der Hollywood-Prominenz. Der Schriftzug bleibt eine stete Mahnung, dass nicht jeder Traum groß wird. Er zeigt aber auch, dass gute Ideen in einem anderen Kontext bestehen bleiben können.
Erfolg durch Misserfolg – Scheitern ist erlaubt
Viele Forscher und Unternehmer scheitern zunächst an ihren Ansprüchen, wie die zahlreichen Beispiele zeigen. Ob es nun Fleming war, der eigentlich Erreger züchten wollte oder Fielding und Chavannes, die eine neue Tapete erfinden wollten; ihr Erfolg war zufällig.
Ausschlaggebend war in jedem Fall, dass sie sich durch eine Niederlage nicht abbringen ließen. Permanente Neuausrichtung und Flexibilität sind hilfreich. Das bekam zum Beispiel auch Max Levchin, der Mitbegründer des Online-Bezahldienstes Paypal zu spüren. Übers Scheitern sagte er einmal:
Das erste Unternehmen, das ich gegründet habe, ist mit einem großen Knall gescheitert. Das zweite Unternehmen ist ein bisschen weniger schlimm gescheitert, aber immer noch gescheitert. Und wissen Sie, das dritte Unternehmen ist auch anständig gescheitert, aber das war irgendwie okay. Ich habe mich rasch erholt, und das vierte Unternehmen überlebte bereits. Es war keine großartige Geschichte, aber es funktionierte. Nummer fünf war dann Paypal.
In den Worten des französischen Schriftstellers Victor Hugo heißt das: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“