66. Gibt es die Aporien der Avantgarde und welche sind das?

Von Lnpoe

Von Bertram Reinecke

Teil 1 im poetenladen / Teil 2 bei lyrikkritik.de

Auszug:

Stellt man sich dem Korpus der Werke ohne Scheuklappen, dürfte eine Literaturgeschichte, die eine Moderne als inzwischen historisch geworden beschreibt und von einer Postmoderne abgelöst sieht, kaum haltbar sein. Denn wenn ein ironisch distanzierter und verfahrenstechnisch interessierter Impetus auch für die Hauptwerke der frühen Modernen typisch ist, hat es keinen Sinn, die Prosa- und Hörspielwerke von Wolfgang Hildesheimer oder die Dichtungen von Rolf Schneider oder Robert Neumann als solche von Außenseitern der Moderne zu charakterisieren oder als Vorläufer der Postmoderne zu beschreiben. Sie wären allenfalls Außenseiter eines existenziell weltanschaulich geprägten Literaturbetriebs, was viel besser mit den Biografien dieser Leute zusammenstimmt. Ebenso wäre Brecht in diese Reihe einzuordnen. Wenig bekannt ist, dass er seine Meisterschüler an der Akademie der Künste Berlin (Ost) dazu ermunterte, sich in strengen Versen zu äußern. Wo der gestische Rhythmus zumindest in diesem Umfeld beginnt, Standard der Rede zu werden, bedeutet der strenge Vers wieder Verfremdung.[5] Oulipo eine moderne oder eine postmoderne Gruppe? Hat irgendwann ein Übergang zwischen dem modernen Oulipo und dem postmodernen Oulipo stattgefunden? Auch das eine absurde Frage, die die Trennung in Moderne und Postmoderne aufwirft. Oder soll man trotz des engen Gruppenbezugs scheiden: Hie der moderne Pastior, dort der postmoderne Calvino?

Ja man müsste, um das Begriffspaar Moderne / Postmoderne als Ordnungslinie in Frage zu stellen, noch einen Schritt weiter gehen: Für eine Postmoderne oft angeführte Merkmale wie ironische Distanz zu Verfahren, Reaktivierung von Sprechweisen, die ästhetisch abgenutzt sind, Spiel mit Zitat oder Einbindung von alltagsweltlichen Codes lassen sich allesamt an von Hoddis’„Weltende“ nachweisen. Zur Ironie hatten wir Stellung genommen, das Verfahren, streng fünfhebige Verse mittels klassischer Reimschemata in eine der gebräuchlichen Strophenformen zu binden, kann bereits seit Holz, Dehmel, Schaukal, Flaischlen oder Liliencron als veraltet gelten.[6] „Weltende“ zitiert Zeitungsmeldungen und enthält Alltagspartikel (hupfen/Schnupfen).

Wenn schon die Urszene des Expressionismus postmodern ist, dann lässt sich das Bemühen der Ismen nicht derart als freies maßstabloses Sprechen auffassen, wie es die Avantgardekritik gerne möchte, sondern diese Dichter stehen in viel komplexerem Verhältnis zu den Konventionen ihrer Zeit.[7] Moderne enthält dann bereits ihre eigene Postmoderne, deswegen kann diese jene nicht ablösen.[8]

Anmerkungen

[5]: Einer ähnlichen Verfremdung hat Brecht das kommunistische Manifest unterzogen, was keineswegs als Devotion eines frommen Marxisten zu verstehen ist. Marxist war Brecht schon, parteifromm sicherlich nicht. Eine theoretische Grundlage, in mythische Ferne gerückt, wird so erst vom zeitgenössischen Einspruch her anfragbar. Eine dialektische Bewegung ähnlich der Enzensbergers, die moderne Poesie ins Museum zu versetzen. Ähnlich steht es mit der für viele Interpreten irritierenden Bukower Elegie: „Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches“, welche oftmals als stalinistischer Lapsus des Autors verstanden wurde. Allerdings gewinnt Brecht hier (und dies wurde oft übersehen) durch zahlreiche archaische und im Kontext der Elegien singuläre Verfahren Abstand zum geschilderten Sachverhalt. (Epitheta, nachgestellte Attribute, Anthropomorphisierungen.) Gleichzeitig mag der Sprecher in diesem Text explizit nicht durch eigene Anschauung für das geschilderte Geschehen einstehen. (Es gibt zwar im Zyklus auch „Bei der Lektüre des Horaz“ bzw. „eines spätgriechischen Dichters“. Die Gedanken werden in diesen beiden Texten jedoch als die des sprechenden Subjekts eingeführt und nicht als Dokumente wie im Erstgenannten). Das Gedicht stellt dadurch die Märchenhaftigkeit der sowjetischen

[6]: Vielleicht sogar zu Recht sind fast alle diese Dichter aus dem Kanon gefallen, so sieht es ein wenig aus, als hätte der Bruch zwischen der metrisch geordneten Tradition und den zumindest weniger sicht- und abzählbar geordneten Formen erst zwischen dem ersten Weltkrieg und den 50ern stattgefunden und als wäre Holz nur eine frühe Schwalbe gewesen, die noch keinen Sommer macht. Schaut man sich aber alte Anthologien an, wird man sehen, dass sich die ungebundene Lyrik schon kurz nach 1900 durchgesetzt hatte und dass die Verse der Expressionisten, aber auch die Rilkes, Georges oder Hoffmannsthals sich großteils als Rückgriffe verstehen (ob bewusst oder unbewusst). Bei den Frühvollendeten (Heym) mögen der konservative wilhelminische Gymnasialkanon und das Gesangbuch dabei eine große Rolle gespielt haben, wenn ihnen der Reim noch als Standartmittel vorkam. Als verslich auf der Höhe muss dagegen eher Bechers „Der Dichter meidet strahlende Akkorde“ angesehen werden, welches Flaischlens und Schaukals zur Anzeige erhöhter Gemütsbewegung entwickelte gegenrhythmische Technik radikalsiert und zum lyrischen Standard erklärt und damit zum direkten Vorläufer von Brechts gestischem Sprechen wird.

[7]: Das ist ja auch logisch: Avantgarden können die Mittel umwerten, gänzlich verzichten können sie auf solche nicht. Und wo immer man schaut, erweisen sich die von ihr aufgewerteten oder erfundenen Mittel als solche, die eine längere untergründige Vorgeschichte haben. Diese aufzuschließen und fruchtbar zu machen, ist eine Leistung der Avantgarden, die mindestens ebenso hoch zu bewerten ist, wie die Reflektion über den Wert künstlerischer Mittel und das viel seltenere Erfinden wirklich gänzlich neuer Verfahrenszüge.

[8]: Umberto Eco hat bereits vor 20 Jahren vorgeschlagen, den Begriff der Postmoderne mit dem des Manierismus zu verbinden. Folgt man Hockes gedankenreichem Buch „Die Welt als Labyrinth: Manier u. Manie in d. europ. Kunst. Von 1520 bis 1650 u. in d. Gegenwart. Band I.“, der unter dem nämlichen Begriff viele Züge dessen subsumiert, was wir heute für gewöhnlich postmodern nennen, würden der Großteil der Surrealisten, aber auch Werke von Picasso, Paul Klee und anderen unter diese Kategorie fallen.