Ein halbes Jahrhundert danach hat nun das „Schreibheft“, die nach wie vor lehrreichste Zeitschrift zur Wiedererweckung der literarischen Moderne, in der aktuellen Nummer 77 ein umfangreiches Dossier zu dem eigensinnigen Weltpoeten Charles Olson zusammengestellt. Unter der Federführung von Norbert Lange und Gerd Schäfer sind hier instruktive Essays und Kommentare zu Olsons Werk versammelt und erstmals auch zentrale Teile von Olsons opus magnum „Maximus“ in deutscher Übersetzung zu lesen. Im Focus des Interesses steht hier die Zeit nach dem Ende der Dichterschule des „Black Mountain College“, als Olson 1957 von North Carolina nach Massachusetts umgezogen war und sich dort nach Gloucester zurückgezogen hatte, ein kleines Fischerstädtchen am nordöstlichen Rand der Vereinigten Staaten. Der Ort Gloucester wird im Großgedicht „Maximus“ zum dichterischen Kosmos und zum Kraftzentrum alles Lebendigen. Als Übersetzer ausgewählter Teile von „Maximus“ agieren mit Norbert Lange, Konstantin Ames, Ron Winkler und Uljana Wolf die experimentierfreudigsten Köpfe der jungen Dichtergeneration. Dazu treten mit Jürgen Brôcan, Rainer G. Schmidt, Ulf Stolterfoht und Gerhard Falkner sehr inspirierte Dichter und Übersetzer, die dafür gesorgt haben, dass diese Wiedererweckung Charles Olsons zu einem aufregenden literarischen Ereignis geworden ist.
Zu „Hammer und Bolzen des Versbaus“ hat Olson die Silbe erklärt – und es ist ein lehrreiches Vergnügen, die kongenialen Nachdichtungen der Übersetzer zu studieren, die den „offenen Vers“ Olsons, der typographisch den ganzen Raum der Seite in weit ausschwingenden Langzeilen ausnutzt, in ganz unterschiedliche Tonarten transferieren. Mal liest sich Olsons „Maximus“ wie eine hymnische Schöpfungsgeschichte, in der der „tiefwirbelnde Okeanos“ alle Dinge „durch alles“ steuert, dann wieder wie eine Rhapsodie auf „Dogtown“, einen Weltenwinkel in Massachusetts. Grundiert werden diese Rhapsodien durch eine Lobpreisung eines neuen Gesellschaftsideals, einer Apologie auf die neue „polis“. Olson selbst verstand sich eigentlich nicht als Dichter oder Schriftsteller, sondern als „Archäologe des Morgens“, zudem als Sänger der erdgeschichtlichen Fakten und der Freisetzung aller menschlichen Möglichkeiten. / Michael Braun, Poetenladen
Schreibheft 77
Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 160 Seiten, 13 Euro.