64. Maximus

Ein halbes Jahrhundert danach hat nun das „Schreibheft“, die nach wie vor lehr­reichste Zeitschrift zur Wieder­erweckung der litera­rischen Moderne, in der aktuellen Nummer 77 ein umfang­reiches Dossier zu dem eigen­sin­nigen Welt­poeten Charles Olson zusam­men­gestellt. Unter der Federführung von Norbert Lange und Gerd Schäfer sind hier instruktive Essays und Kommen­tare zu Olsons Werk versammelt und erstmals auch zentrale Teile von Olsons opus magnum „Maximus“ in deutscher Über­setzung zu lesen. Im Focus des Interesses steht hier die Zeit nach dem Ende der Dichter­schule des „Black Mountain College“, als Olson 1957 von North Carolina nach Massa­chusetts umgezogen war und sich dort nach Gloucester zurück­gezogen hatte, ein kleines Fischer­städtchen am nordöstlichen Rand der Vereinigten Staaten. Der Ort Gloucester wird im Großgedicht „Maximus“ zum dichte­rischen Kosmos und zum Kraftzentrum alles Lebendigen. Als Über­setzer ausgewählter Teile von „Maximus“ agieren mit Norbert Lange, Konstantin Ames, Ron Winkler und Uljana Wolf die experimentierfreudigsten Köpfe der jungen Dichter­generation. Dazu treten mit Jürgen Brôcan, Rainer G. Schmidt, Ulf Stolterfoht und Gerhard Falkner sehr inspirierte Dichter und Übersetzer, die dafür gesorgt haben, dass diese Wieder­erweckung Charles Olsons zu einem aufre­genden litera­rischen Ereignis geworden ist.

Zu „Hammer und Bolzen des Versbaus“ hat Olson die Silbe erklärt – und es ist ein lehrreiches Vergnügen, die kongenialen Nachdichtungen der Übersetzer zu studieren, die den „offenen Vers“ Olsons, der typographisch den ganzen Raum der Seite in weit ausschwingenden Langzeilen ausnutzt, in ganz unterschiedliche Tonarten transferieren. Mal liest sich Olsons „Maximus“ wie eine hymnische Schöpfungsgeschichte, in der der „tiefwirbelnde Okeanos“ alle Dinge „durch alles“ steuert, dann wieder wie eine Rhapso­die auf „Dogtown“, einen Weltenwinkel in Massachusetts. Grundiert werden diese Rhapso­dien durch eine Lobpreisung eines neuen Gesellschaftsideals, einer Apologie auf die neue „polis“. Olson selbst verstand sich eigentlich nicht als Dichter oder Schriftsteller, sondern als „Archäologe des Morgens“, zudem als Sänger der erdgeschichtlichen Fakten und der Freisetzung aller menschlichen Möglichkeiten. / Michael Braun, Poetenladen

Schreibheft 77
Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 160 Seiten, 13 Euro.



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