62.Längst nicht erschöpftes Modell

Von Lnpoe

Unter diesem Titel äußert sich der Übersetzer zu Bertrands Gaspard de la Nuit.

Mehr als vierzig Jahre hat der Gaspard de la Nuit von Aloysius Bertrand (1807-1841) mich begleitet. Mit dem Buch ist es mir ähnlich ergangen wie vielen seiner Leser seit Baudelaire: Ich hatte den Eindruck, einem Geheimnis zu begegnen, einem Leuchten, das ebenso suggestiv wie unerklärlich war.

Einen der Texte des Gaspard de la Nuit schätzte der Autor so sehr, dass er die Gewohnheit hatte, das ganze Buch danach zu nennen. Es ist der Maurer aus dem Ersten Buch, das Die Flämische Schule betitelt ist. Auch wenn es im Gaspard de la Nuit Texte gibt, die ich persönlich bevorzuge, zeigt der Maurer doch Merkmale, die geeignet sind, einen ersten Eindruck des Werks zu vermitteln.

Auf bemerkenswerte Weise tritt der Autor hinter seinem Text zurück. Kommentarlos wird Bild an Bild gereiht; Bertrand verweigert eine Deutung des Geschehens, das damit etwas Letztes und Endgültiges erhält. Gegenüber der subjektiven Konfession, die als ein Wesensmerkmal romantischen Dichtens erscheint, stellt dieses Schweigen eine bemerkenswerte Neuerung des Gaspard de la Nuit dar.

Dem Zurücktreten des Subjekts entspricht die Herausbildung einer eigenmächtigen Objektwelt. Wie der Maurer unseres Textes ist das Subjekt im Gaspard gleichsam nur Zeuge der Welt, nicht ihr Schöpfer. Bertrand bezieht hier eine bemerkenswerte Gegenposition zur Ideologie der postrevolutionären Gesellschaft seiner Zeit, die vom Pathos der Freiheit und des Subjekts zehrt. Die Herrschaft des Objekts im Gaspard de la Nuit ist unberechenbar.

Die weitere Einführung zum Text „Der Maurer“ auf Fixpoetry

DER MAURER

Seht diese Flanken, diese Strebepfeiler:

Sie stehn wie für die Ewigkeit gebaut.

SCHILLER, Wilhelm Tell

MIT einem Lied schwingt der Maurer Abraham Knüpfer die Kelle, so hoch auf seinem Gerüst, dass er, die gotische Inschrift der Glocke vor Augen, zu Füßen zugleich die Kirche mit ihren dreißig Strebebögen und die Stadt mit ihren dreißig Kirchen hat.

Er sieht die steinernen Ungeheuer den Regen von den Schieferdächern in die Tiefe speien, einen verworrenen Abgrund von Galerien, Fenstern, Gewölbezwickeln, Dachreitern, Fialen, Dachwerk und Gebälk, den die gekrümmte, regungslose Schwinge eines Falken mit einer grauen Flocke tupft.

Er sieht die Festungswerke sternförmig gebreitet, die Zitadelle, stolz wie ein Gockel auf dem Mist, die Höfe der Paläste, wo die Sonne die Springbrunnen ausdörrt, und die Kreuzgänge der Klöster, wo der Schatten um die Pfeiler wandert.

Die Kaiserlichen liegen in der Vorstadt; und jetzt rührt ein Be-rittener dort unten die Trommel. Abraham Knüpfer erkennt seinen Dreispitz, seine Achselschnüre aus roter Wolle, seine Kokarde, über die eine Kordel läuft, und seinen Zopf, um den ein Bändchen geknüpft ist.

Was er noch sieht, sind ein paar Veteranen, die unter den mächtigen Kronen des Schlossparks auf dem weiten, smaragdgrünen Rasen mit Büchsenschüssen einen hölzernen Vogel auf einem Maibaum zerlöchern.

*

Und gegen Abend, als das ruhevolle Schiff der Kathedrale mit gekreuzten Armen in Schlaf sank, gewahrte er von der Leiter einen Weiler am Horizont, von Kriegsvolk in Brand gesteckt, der am Himmel glühte wie ein Komet.

(Aus Buch I: Die Flämische Schule)

Und hier zwei weitere Prosagedichte Bertrands:

DIE FÜNF FINGER DER HAND

Ein honette Familie: bis dato kein Bankrotteur und kein Gehenkter.

DIE SIPPSCHAFTEN DES HANS JEDERMANN

DER Daumen ist ein flämischer Kneipenwirt, ein Dickwanst voller anzüglicher Späße, der in seiner Tür steht und pafft, während über ihm das Aushänge-schild zum Märzenbier einlädt.

Der Zeigefinger einer Frau, ein Mannweib dürr wie ein Stockfisch, die schon frühmorgens die Dienstmagd kuranzt, auf die sie eifersüchtig ist, und die Flasche tätschelt, in die sie verliebt ist.

Der Mittelfinger ihr Sohn, ein Kerl wie mit der Axt behauen, der Reuter wär, wär er nicht Schankwirt, und Kutschgaul, wär er nicht Mensch.

Der Ringfinger ihre Tochter, ein flinkes und schnippisches Frauenzimmer, die den Damen ihre Spitze, nicht aber den Herren ihr Lächeln verkauft.

Und der kleine Finger ist der Benjamin der Familie, ein weinerlicher verzogener Affe, der beständig am Schürzenband seiner Mutter hängt wie ein Kind am Haken des Ogers.

Die fünf Finger der Hand sind das sonderbarste Fingerkraut, das jemals die Gärten der wohledlen Stadt Haarlem verzierte.

(Aus Buch I: Die Flämische Schule)

SCARBO

Gewähre mir, Herr, wenn mein Stündlein schlägt, den Beistand eines Priesters, ein leinern Leichentuch, einen Sarg aus Tannenholz und ein trockenes Plätzchen.

DIE GEBETE DES HERRN MARSCHALL

„OB du in Frieden stirbst oder Verdammnis“, raunte in dieser Nacht Scarbo in mein Ohr, „dein Leichentuch soll ein Spinnweb sein, und ich will dich mit der Spinne verscharren!“

„So lass mich doch“, gab ich zur Antwort, die Augen vom Weinen gerötet, „so lass mich doch nur das Blatt einer Espe zum Leichentuch haben und mich wiegen im Atem des Sees!“

„Nicht doch!“ spottete hämisch der Zwerg, „der Käfer würde dich fressen, der abends die Mücken jagt, wenn sie geblendet sind von der sinkenden Sonne!“

„So willst du denn lieber“, erwiderte ich, noch immer in Tränen, „so willst du denn lieber, dass die Tarantel mit ihrem Elefanten-rüssel mich aussaugt?“

„Nun denn“, sprach er zuletzt, „sei getrost! Dein Leichentuch sollen die goldgefleckten Streifen einer Vipernhaut sein, in die ich dich wickeln werde wie eine Mumie.

Und in der düsteren Krypta von Sankt Benignus, wo ich dich aufrecht an einer Mauer bestatten will, wirst du in Muße die kleinen Kinder in der Vorhölle schreien hören.“

(Aus Buch III: Die Phantasmagorien der Nacht)