62. Büchlein ohne Schwanz

Einer der grössten literarischen Küsser, die die Sprache je hervorgebracht hat, scheint jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Als Dichter, Maler und Bildhauer verkörperte er das Renaissance-Ideal eines uomo universale und sorgte mit einem Gedichtzyklus für einen Klassiker der erotischen Literatur des 16. Jahrhunderts: Johannes Secundus. In diesem Jahr wird sein 500. Geburtstag gefeiert. …

Jede Erschütterung des Ichs zeichnet er auf, wechselt gemäss der Anzahl der Gedichte neunzehn Mal kunstvoll das Metrum. Dadurch lädt er seine Verse mit ungeheurer Lebendigkeit auf, die modern anmutet – und unverhofft für Aktualität sorgt. In einem der Gedichte erklärt Secundus seine «Basia» kurzerhand zu Keuschgebieten: Nur ums Küssen gehe es ihm, also verschwindet, ihr Unanständigen, ruft er seinem Publikum zu und preist einen Atemzug weiter die Sittsamkeit seiner Geliebten, «die ganz sicher ein Büchlein ohne Schwanz lieber will als einen Dichter ohne Schwanz». So leicht ist der Voyeurismus des Publikums enttarnt. Darauf verstand sich schon Catull, Secundus steht dem Römer in nichts nach. / Christoph W. Bauer, NZZ



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