59. Rückblende Juni 2001: Nicht jeder mag Berlin

Machmud Darwisch lebt noch und ist einer der letzten Dichter, die selber ein Mythos sind, einer wie Lorca, wie Majakowski, wie Neruda oder Nazim Hikmet. Agnes Miegel ist eine Nazisse:

1940 erhielt sie den »Goethepreis der Stadt Frankfurt«.

Frau Miegel bedankte sich artig, wurde Mitglied der NSDAP und schmiedete beispielsweise diese Hymne auf den »Führer«: »Neid hat er und Bruderhaß gestillt. Unsere Herzen, hart von Not und Krieg, hat mit seinen glühenden, glaubensvollen Worten ER durchpflügt wie Ackerschollen, bis ein neuer Frühling in uns stieg.« So was darf mit dem Goethepreis von 1940 nicht abgegolten sein. Darum auch legten die Regierenden des Freistaates Bayern als Vorkämpfer deutscher Leitkultur 1959 den Literaturpreis der »Bayerischen Akademie die Schönen Künste« für die Ehrenbürgerin der niedersächsischen Gemeinde Bad Nenndorf dazu. 1948 war ihr dort diese Ehrung zuteil geworden; ihr einstiges Wohnhaus ist heute als »Agnes- Miegel-Haus« und Museum eingerichtet. / junge Welt 28.6.

Alle reden über Ingeborg Bachmann (75. Geburtstag). Nicht alle Männer mögen sie.

Thomas Kling: «Mainstreamkitsch», «Kulissenschieberei», «ein unelegantes Gewuchte von Bildern» oder «klassizistisches Herumfummeln mit Hölderlin» erkennt er in Bachmanns Lyrik und urteilt gnadenlos – Mittelmass.

Der andere, Marcel Reich- Ranicki, „behauptet heute noch steif und fest, an die Gespräche mit ihr könne er sich seltsamerweise nicht erinnern, wohl aber an ihr Aussehen. Wäre ein solcher Ausspruch denkbar von, sagen wir, Sigrid Löffler über Paul Celan?“

Nicht alle mögen Berlin. Gilt auch für seine Festivals. Jörg Magenau beklagt in der FAZ die „ungebrochen naive Aufklärungsmission und das Pathos mancher afrikanischer Autoren“ und fragt: „Hat Berlin darunter gelitten, daß die ugandische Lyrikerin Goretti Kyomehundo noch nie in der Stadt auftrat?“ Vielleicht am schlimmsten: „Für sein Literaturfestival will Berlin andere zahlen lassen“.

Ebenfalls in Berlin zeigt eine Ausstellung in der Stiftung „neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ Leben und Werk des Dichters Jakob van Hoddis. (Was hier gezeigt werde, fragt eine Besucherin im Eingang. Irgendein russsischer Dichter, sagt einer vom Personal. Der andere durchwühlt meine Tasche wie am Flughafen.). Ernest Wichner schreibt in der Süddeutschen:

Immer wieder in Sanatorien und Kliniken eingeliefert, bei Pflegefamilien in Thüringen, von 1922 an in Privatpflege bei einer Gastwirtsfamilie in Tübingen, entmündigt, in die Universitäts-Nervenklinik eingewiesen und 1933, als seine Familie nach Palästina auswandert, in die „Israelitische Heilanstalt“ in Bendorf Sayn bei Mainz verbracht, wird Jakob van Hoddis am 30. April 1942 mit hundert weiteren Patienten und den Mitarbeitern der Anstalt in den Distrikt Lublin verschleppt und bald darauf, wahrscheinlich im Vernichtungslager Sobibor, ermordet.

„Manchmal, wenn er sich im Garten befindet, springt er plötzlich auf irgendein Tier (Ameise, Schmetterling etc.) zu und begrüßt dasselbe durch sechs- bis siebenmaliges steifes Verbeugen oder durch Abnahme des Hutes“, kann man in der Göppinger Krankenakte lesen, in der – wie in allen anderen, die das umfangreiche Ausstellungsbuch versammelt – der Dichter Jakob van Hoddis nur noch Pat. (Patient) heißt.

Wann beginnt Dresden die Hauptstadt der Poesie zu werden, fragt Tomas Gärtner:

Wenn sich die ersten Lyrikfans aus der Buchstadt Leipzig mit Schlafsack und wenig Geld in der Tasche nach Dresden aufmachen, nur um das hier zu erleben.

(Und, ist das eingetroffen?)

Es ist schon seltsam, schreibt die Main-Rheiner Allgemeine Zeitung, dass einer ein Ordnungsfanatiker sein und gleichzeitig im Chaos untergehen kann. Aber bei dem Lyriker Ernst Jandl (1925-2000) hatte das seine eigene Logik.

Das Leben wenigstens „auf kleinen Sprachinseln“ zu verarbeiten, zu ordnen: dies müsse wohl Jandls schöpferischer Impuls bei seinen mehr als 2500 Gedichten gewesen sein. Im übrigen hat Ernst Jandl sein Ordnungsproblem ganz praktisch gelöst: als die erste Wohnung mit Zetteln, Ordnern, Bücher und Notizen so vollgestopft war, dass man sich nicht mehr darin bewegen konnte, ließ er alles stehen und liegen, schloss die Tür ab und zog um. Kurz vor seinem Tode hatte er gerade die dritte Wohnung bezogen. Und so ist Ernst Jandl wohl zur Lebensaufgabe für seinen Lektor und Biografen geworden. /  15.6.01

Politisches zum Schluß:

Wie kommt es, dass jemand, der seit Jahrzehnten in  Deutschland lebt, noch immer nicht die deutsche  Staatsbürgerschaft besitzt?  SAID: Ich habe vor vier, fünf Jahren die Staatsbürgerschaft  beantragt. Die Bürokratie hat mir aber mitgeteilt, dass ich  dafür nicht genügend Geld verdiene. Natürlich hätte ich vor  Gericht ziehen können und auch Recht bekommen, weil der  Bescheid verfassungswidrig war. Aber ich fand es  lächerlich, mich wegen eines Stücks Papier zu streiten. / der iranische Lyriker und deutsche Pen-Präsident Said in der Kleinen Zeitung Online



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