Wenn man von diesen bedenklichen Fehlleistungen im Zeichen von Dada absieht, bietet das „Du“-Heft doch auch viel Hilfreiches zum Kontext der dadaistischen Revolte. Der russisch-deutsche Dichter Valeri Scherstjanoi zieht zum Beispiel einige Verbindungslinien zwischen der Lautpoesie Hugo Balls und der experimentellen Dichtung des russischen Futuristen Alexej Kruchtschonych, einem Freund und Weggefährten des radikalsten Avantgardisten Russlands, Welimir Chlebnikow.
Aus welcher materiellen Substanz und topografischen Erfahrung der Futurist Welimir Chlebikow seine futuristische „Sternensprache“ schöpfte, untersucht nun ein Essay in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 99 der Kulturzeitschrift „Lettre International“. Der Schriftsteller Wassili Golowanow kann hier zeigen, dass Chlebnikows Wortschöpfungen elementar verbunden sind mit der Landschaft, in der er aufwuchs. Das poetische Koordinatensystem Chlebnikows ist die Landschaft rund um das Kaspische Meer – das Wolgaudelta, das seit je nicht nur ein uralter Transitraum von Waren aus allen Kontinenten war, sondern auch ein kultureller Geschichtsort, an dem die Kraftlinien vieler Kulturen zusammenlaufen. Welimir Chlebnikow, der Sohn eines Vogelkundlers, hat nicht nur ornithologische Begrifflichkeiten, sondern auch die botanischen und geologischen Merkmale des kaspischen Raumes in die Sprache seiner Poesie integriert. Daraus entstand dann der Entwurf seiner sogenannten „Zaum“-Sprache, eine magische, nach allen Seiten hin offene, Grenzen sprengende „Sternensprache“. Nach der Oktoberrevolution irrlichterte Chlebnikow zwischen den Fronten, wurde zweimal inhaftiert, erkrankte an Typhus und starb schließlich, von Krankheit und Hunger ausgezehrt, im Mai 1922 auf einer abgelegenen Station im russischen Norden. Erst ein halbes Jahrhundert später wurde er europaweit zur Kultfigur der literarischen Avantgarde. / Michael Brauns Zeitschriftenschau, Poetenladen
- EDIT Heft 60
Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig, 144 Seiten, 5 Euro. - Du 11 (2012)
Du Kulturmedien, Stadelhoferstr. 25, CH-8001 Zürich. 114 Seiten, 15 Euro. - Lettre International 99
Erkelenzdamm 59/60, 10999 Berlin. 140 Seiten, 11,90 Euro.